Der Sammelband zu städtischer Geschichtsschreibung in Nordwesteuropa im 15. und 16. Jahrhundert wird durch ein historiografisch sehr gut fundiertes Vorwort von Jan Dumolyn und Anne-Laure Van Bruaene eingeleitet. Er enthält drei Sektionen mit insgesamt zehn Aufsätzen. Die erste behandelt Gattungsdefinitionen und Quellentypologien. Die zweite beschäftigt sich mit der Erinnerung an Konflikte und dem sozialen und politischen Kontext städtischer Geschichtsschreibung, die dritte mit materiellen Aspekten, Kodikologie und heterogenen gemischten Überlieferungsmedien.

Ein zentrales Anliegen besteht in der Abkehr von bisherigen allzu engen Definitionen städtischer Chronistik und Geschichtsschreibung. Ausgangspunkt ist die von der älteren Forschung getroffene paradoxe Feststellung, die Niederlande, eines der am stärksten urbanisierten Gebiete des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa, verfügten nicht über echte städtische Chroniken: »there has been a fierce debate over whether real ›urban chronicles‹ were ever written. While earlier scholarly consensus was that there were no ›real‹ urban chronicles, lately regional specialists have fundamentally reconsidered this point of view« (S. 11).

Diese Fehleinschätzung geht mehreren Beiträgen zufolge auf die Verabsolutierung einer anhand italienischer Stadtstaaten und deutscher Reichsstädte und Freier Städte entwickelten Definition städtischer Chronistik zurück. Dabei habe seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die bedeutende, bis heute nicht ersetzte Edition der »Chroniken der deutschen Städte« durch Karl Hegel eine entscheidende Rolle gespielt. Es gelte, die dadurch ausgelösten verhängnisvollen Folgen zu überwinden, die zu einem Desinteresse der Forschung mehrerer Länder an ihrer mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsschreibung und zu einer Überschätzung des spezifisch städtischen bürgerlichen Bewusstseins (bourgeois consciousness) beigetragen hätten: »This teleological conception of German historiography, for which nineteenth century editors would even manipulate manuscripts, cutting sections to create ›pure‹ urban chronicles and construct a ›bourgeois consciousness‹, is still relevant to modern discussions of this ›genre‹« (S. 11).

Dies gelte auch für die italienische Historiografie (Überbetonung des civic spirit) und die Entdeckung besonderer bürgerlicher und weltlicher Züge in Londoner Chroniken des 15. Jahrhunderts. Am Ende der Einleitung formulieren Jean Dumolyn und Anne-Laure Van Bruaene eine thesenartige Zuspitzung und zugleich eine Bilanz der Ergebnisse: »In our view there are no fixed textual formats, social or political categories, or material forms that exclusively define ›the urban chronicle‹, let alone ›urban memory‹ or ›urban historical culture‹ in general« (S. 23).

Mehrere Aufsätze unterstreichen die Heterogenität städtischer Überlieferung, insbesondere fließende Grenzen zu Verwaltungsschriftgut und Registern, regionaler und Landeschronistik (die oft als Vorlage städtischer Geschichtsschreibung diente), Gemeinsamkeiten mit Gattungen wie flämischen memorieboeken, deutschen Amts- oder Ratsbüchern und Ego-Dokumenten: »The contributions in this volume attest to the diversity of the ›genre‹, if this word still has any meaning« (S. 23).

Aus diesen Postulaten wird ein vierstufiges Programm abgeleitet: 1. Bildung eines lokalen Handschriftenkorpus mit direktem gemeinsamem historischen Bezug (z. B. Überlieferung innerhalb einer städtischen Verwaltung/einer Familie, Varianten ähnlicher Texte); 2. Anwendung kodikologischer und paläografischer Methoden (Analyse von Schreiberhänden, Bindung, Besitzvermerke, heraldische und visuelle Elemente, Kombination mit anderen Texten); 3. Untersuchung der Zirkulation von Handschriften durch detaillierte Netzwerk-Analyse der Milieus, in denen sie entstanden, weiterverbreitet und überliefert wurden; 4. Diskurs- und pragmatische Textanalyse (ideologische Botschaften in Text und Abbildungen, Hinweise auf Performanz-Akte und Oralität, Fortsetzungen, Neu- und Umdeutungen, intendiertes Zielpublikum und dessen Erwartungshaltung etc.) (S. 24).

Der geografische Rahmen umfasst den flämisch-niederländischen Raum (Gent, Brügge, Ypern, Mechelen, Kampen), die Enklave Tournai, den deutschen Sprachraum (mit »klassischen« Fallbeispielen zu Straßburg, Augsburg und Konstanz und dem problematischeren Fall Basel) und zwei englische Beispiele, London und Bristol.

Marco Tomaszewski widmet sich Basel. Dort entstand die erste monografische Stadtchronik erst 1580. Es gab jedoch schon vorher eine Fülle sehr heterogener historiografischer Aufzeichnungen, wie die sog. Beinheim-Handschrift (kompiliert 1545). Sie wurden nach dem Vorbild der »Chroniken der deutschen Städte« unter dem Titel »Basler Chroniken« ediert und dafür neu arrangiert, teilweise umgestellt und gekürzt.

Ina Serif spürt der Basler Rezeption der als offener Text behandelten Chronik Jakob Twingers von Königshofen nach, die im Laufe der Zeit einen Funktionswandel zeigt. Jenine de Vries vergleicht Quellenmaterial aus Bristol mit Texten aus den südlichen Niederlanden. Paul Trio betont Verbindungen zwischen städtischer und regionaler Geschichtsschreibung und bezeichnet Ypern als breeding ground für das spätmittelalterliche Flandern. Städteverbindende Familiennetzwerke wie das der Familie van Dixmude spielten eine wichtige Rolle. Laura Crombie analysiert den »Kalendrier des Guerres de Tournay (1477–1479)« des Jehan Nicolay, der unter Verwendung offizieller städtischer Quellen alltägliches Leid und Kriegserfahrungen in Tournai beschrieb, sich dabei aber, zumindest auf den ersten Blick, auffallend emotionslos gab.

Tineke van Gassen stellt das »Dagboek van Gent« vor. Sie diskutiert ausführlich dessen Entstehungskontext, mögliche Autoren und den Funktionswandel. Ihrer Ansicht nach entstand es nach Aufständen aus praktischen Gründen und diente der städtischen Diplomatie zur Vorbereitung der Friedensverhandlungen in Lille 1452. Später habe sich diese Textvorlage, die Ähnlichkeiten zu deutschen Rats- und Stadtbüchern aufweise, zunehmend in Richtung Historiografie entwickelt. Bram Caers und Lisa Demets greifen das methodische Konzept der interpretative communities auf. Sie stellen mit Brügge und Mechelen Fallstudien zu Auswirkungen stadtinterner Parteibildungen vor: Brügge war überwiegend anti-habsburgisch und gegen Maximilian eingestellt, Mechelen betonte jedoch seine Loyalität und legte Wert darauf, Residenzort und Sitz von Institutionen zu sein.

Marcus Meer präsentiert für Augsburg den Einsatz heraldischer Mittel in illustrierten Handschriften der »Chronographia Augustensium« und dem sog. Wappenbuch der Familie Gossembrot (um 1469), die identitätsstiftende und legitimatorische Absichten verfolgten. Peter Bakker stellt mit »De Annalibus quaedam« (spätes 15. Jahrhundert) und den »Annalia ende andere copien« (erste Hälfte 16. Jahrhundert) zwei von städtischen Sekretären verfasste Chroniken aus der Hansestadt Kampen vor. Während »De Annalibus« für interne Zwecke der Stadtverwaltung bestimmt war, spiegeln die »Annalia« politische Aspekte wider: Ab 1525 änderte sich die Perspektive und statt des bisher dominierenden Fürstbistums Utrecht rückte zunehmend das Reich ins Zentrum des Interesses. 1528 unterstellte sich Kampen direkt Kaiser Karl V.

Louise Vermeersch beschäftigt sich mit Medien religiösen Dissenses. Sie untersucht vor allem den 1583 publizierten Almanach des Gaultier Manlius für Gent, möchte ihn aber nicht der Kategorie der städtischen Geschichtsschreibung zurechnen, da er zwar lokale Marktdaten und örtliche Heiligenfeste vermerkte, aber keine spezifischen historischen Daten zu Gent enthielt.

Insgesamt gesehen handelt es sich um ein sehr anregendes Buch, das zahlreiche hochinteressante Denkanstöße gibt. Mehrere aus Qualifikationsarbeiten hervorgegangene Aufsätze geben einen Vorgeschmack auf noch zu erwartende Publikationen. Die starke Betonung kodikologischer Methoden, heraldischer Elemente etc. entspricht, in einem aktualisierten Gewand, einem neueren Trend zur Wiederentdeckung historischer Hilfswissenschaften. Zumindest ein totaler Verzicht auf jegliche Typologie städtischer Geschichtsschreibung würde das Definitionsproblem jedoch vermutlich eher verlagern als wirklich lösen. Auch der Rückgriff auf Konzepte wie »urban memory«, »urban historical culture« usw. werfen letztlich Fragen dazu auf, was daran spezifisch städtisch sei, ob überhaupt derartige besondere Charakteristika existieren und was denn unter »Kultur« zu verstehen sei. Trotzdem ist eine Abkehr von allzu engen Gattungsgrenzen und -definitionen überaus wünschenswert – was die hier gesammelten Beispiele auch sehr überzeugend belegen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Bram Caers, Lisa Demets, Tineke Van Gassen (ed.), Urban History Writing in Northwest Europe (15th–16th centuries), Turnhout (Brepols) 2019, 231 p. (Studies in European Urban History [1100–1800], 47), ISBN 978-2-503-58376-1, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75543