Das neue Buch von Jean-Pierre Devroey beruht auf seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der bäuerlichen Ökonomie der Karolingerzeit, interveniert aber zugleich in ganz aktuelle Diskussionen über die ständig wachsenden Ergebnisse der Klimaforschung. Im Zentrum des Buches stehen die Hungersnöte zur Zeit Karls des Großen, die nach allen Regeln der Kunst analysiert werden. Gerahmt wird das Buch durch einen einführenden Abschnitt, der zu methodischen Fragen der Wirtschafts-, Klima- und Umweltgeschichte Stellung bezieht, und durch weitreichende Folgerungen im ausführlichen Schlussteil.
Die intime Kenntnis der Forschungs- und Theoriegeschichte ist schlicht beeindruckend. Devroey bewegt sich fast spielerisch zwischen den Theorieangeboten von Malthus und Marx, von Pareto, Weber und Tschajanov, von Foucault, A. Sen, Agamben und Descola. Insbesondere greift er auf das erprobte Konzept der Vulnerabilität zurück, um herauszufinden, inwiefern die Bauern des Karolingerreichs der Natur ausgeliefert waren und welche kommunalen und hierarchischen Organisationen der Solidarität bestanden, um die Verteilung von Nahrungsmittel sicherzustellen.
Immer wieder warnt er vor Vereinfachungen, Reduktionismen und deterministischen Schlüssen zwischen Klima und Erntemenge. Das Frankenreich sei weder eine geoklimatische Einheit noch weise es eine ökonomische Kohäsion auf. Diese allgemeinen Erwägungen sind überaus lehrreich, auch wenn sie sich mitunter wiederholen und zu langen Exkursen wie über die russische Hungersnot von 1891/1892 Anlass geben. Solche Exkurse prägen das gesamte Buch, erfahren aber dadurch ihre Rechtfertigung, dass Devroey mit der Anwendung dieser »regressiven Methode« die lückenhafte Überlieferung der Karolingerzeit ergänzen möchte.
Allgemein kennzeichnet Devroey die Periode von 650 bis 750 als eine Phase der langsamen Erwärmung, die ab 750 durch eine instabilere klimatische Lage im Norden des Frankenreichs abgelöst wurde, welche vor allem durch kältere Sommer und feuchtere Frühlinge gekennzeichnet gewesen sei. Wichtiger als dieser generelle Trend sei aber die lokale Situation gewesen, die erst bei der Verkettung von mehreren ungünstigen Jahren zu einer Hungersnot ausarten konnte.
Die Häufung von Engpässen nach 800 habe sogar dazu geführt, dass in den Annalen seitdem über Probleme der Versorgung mit Nahrungsmitteln der Mantel des Schweigens gehüllt wurde, während zugleich in den Erlassen der Herrscher immer häufiger Lösungswege ausprobiert wurden. Folglich war Karl der Große nicht vom Wetter gesegnet, vielmehr verschlechterte sich die Lage zunehmend und mündete in eine Phase der Teuerungen und der agrarwirtschaftlichen Rezession.
Die drei Kernkapitel zu den Hungersnöten von 763/764, 779 und 791–794 kommen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Für den kalten und langen Winter von 763/764 zieht Devroey nicht nur Quellen aus dem lateinischen Westen, sondern auch Dokumente aus Byzanz und dem Nahen Osten heran. Dabei kann er auf beeindruckende Weise demonstrieren, wie die kulturelle Diversität eine unterschiedliche Wahrnehmung von ähnlichen Klimaveränderungen zur Folge hatte. Die Kälte des Winters führt Devroey nicht auf eine Verdunkelung der Atmosphäre durch verstärkte Vulkanaktivität, sondern auf die Ausdehnung des sibirischen Hochdruckgebiets zurück.
Pippin der Jüngere habe auf die Nahrungsmittelknappheit reagiert, indem er erstmals die verpflichtende Einhebung des Zehnten forderte und damit die christliche Armenfürsorge reorganisierte. Die Hungersnot von 779 sei dagegen nicht durch eine Klimaanomalie, sondern durch die Beutezüge des Sachsenführers Widukind verursacht worden. Ihre Wirkung blieb daher regional auf das Rheinland beschränkt, wie Devroey anhand von subtilen Analysen der annalistischen Quellen zeigt.
Karl der Große habe darauf nicht nur durch die Einschärfung des Zehnten, sondern auch durch die Festlegung zusätzlicher Abgaben reagiert, die jedoch aufgrund der bescheidenen Höhe nur als »Symbolpolitik« zu beurteilen seien. Die dritte Hungersnot von 791–794 stellt die historische Forschung vor besondere Herausforderungen, weil die Quellen für verschiedene Regionen des Frankenreichs von einer normalen Ernte, aber von mangelhaften bzw. nichtexistenten Erträgen berichten.
In einem langen, aber höchst informativen Exkurs über die Geschichte von Schädlingen schlägt Devroey die überzeugende Deutung vor, dass die Hungersnot durch winzige pflanzenfressende Schädlinge und durch Pilzbefall ausgelöst worden sein könnte. Unerklärbar sei dies den Zeitgenossen deshalb gewesen, weil sie zwar durch biblische und antike Berichte mit der Heuschreckenplage vertraut waren, andere Schädlinge in der Ontologie der Karolingerzeit aber nicht vorkamen. Diese Hungersnot ohne erkennbare Ursache habe den göttlichen Segen Karls des Großen infrage gestellt, da zur selben Zeit weitere Rückschläge wie militärische Niederlagen, der Aufstand Pippins des Buckligen und das Scheitern des Kanalbaus zu verzeichnen waren.
Von diesen drei Deutungen kann nur die zweite nicht vollständig überzeugen. Dass Widukinds Beutezüge an den Rhein zu Zerstörung, panischer Flucht und Unordnung im Reich geführt hätten (S. 234), wird von den Quellen nur in Teilen gedeckt. Sicher falsch ist der Hinweis auf die Zerstörung des Kölner Klosters Groß St. Martin (S. 193), da die Sachsen nach den Reichsannalen nur bis Deutz kamen, den Rhein aber nicht überqueren konnten. Die Information zum (erst von Erzbischof Brun gegründeten) Kloster Groß St. Martin beruht vielmehr auf den Fälschungen des Oliver Legipont, die vor 120 Jahren durch Otto Oppermann enttarnt wurden. Dieses kleine Missgeschick ist aber keineswegs repräsentativ für die durchgehend ausgewogene, subtile und geistreiche Quellenanalyse. Allein das lange Kapitel über Agobard von Lyon und die Wetterbeschwörer (S. 210–223) ist ein Glanzstück der Interpretation!
In den letzten beiden Kapiteln werden die Hungersnöte vom Anfang des 9. Jahrhunderts nicht mehr im Detail dargestellt. Stattdessen konzentriert sich Devroey auf die sich wandelnden Reaktionen von Seiten des Herrschers. Er möchte zwar nicht eine kohärente Doktrin hinter den Maßnahmen der karolingischen Herrscher postulieren, aber doch eine Form von »moral economy«, in der der König als Ernährer des Volkes für die gerechte Verteilung der Nahrungsmittel verantwortlich und zu Interventionen in das Marktgeschehen berechtigt war. Diese Vorstellung sei mit Karl dem Großen nicht untergegangen, sondern durch seine Nachfolger Ludwig den Frommen und Karl den Kahlen dauerhaft in der europäischen Geschichte verankert worden.
Vor dem Hintergrund der neueren Karlsbiografien kann man das Buch von Devroey nur begrüßen. Es stellt nicht den Herrscher in den Mittelpunkt, seine souveränen Entscheidungen und weiten Handlungsspielräume, sondern macht vielmehr auf die Zwänge und Grenzen aufmerksam, die ihm durch die klimatischen und ökonomischen Veränderungen sowie durch die Ordnung der bäuerlichen Lebenswelt auferlegt waren. Der Forderung Fernand Braudels, die Betrachtung von Ereignissen, Konjunkturen und Strukturen miteinander zu verbinden, wird auf höchstem Niveau entsprochen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Karl Ubl, Rezension von/compte rendu de: Jean-Pierre Devroey, La Nature et le roi. Environnement, pouvoir et société à l’âge de Charlemagne (740–820). Préface de Patrick Boucheron, Paris (Albin Michel) 2019, 590 p. (Bibliothèque de l’évolution de l’humanité), ISBN 978-2-226-42940-6, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75549