Eine neue Veröffentlichung zu Chlodwigs Taufe, dazu noch in Form einer Monographie! Ist nicht schon alles, was gesagt werden kann, gesagt? Ist nicht schon jeder Erklärungsversuch, so gut begründet er auch sein mag, mit ebenso guten Gründen widerlegt worden? Wer beruflich mit dem Frühmittelalter zu tun hat, dem wird sich dieser Gedanke unvermeidlich aufdrängen, noch ehe er einen Blick in das anzuzeigende Buch getan hat. Dieser Eindruck, soviel vorab, tut dem glänzend geschriebenen und scharfsinnig argumentierten Band allerdings Unrecht. Natürlich vermag Dumézil das Rad nicht neu zu erfinden.Wer also grundsätzlich Neues zur Konversion des ersten großen Merowingers erwartet, der wird das Buch enttäuscht zur Seite legen. Doch darum geht es dem Verfasser nicht: »Moins qu’une nouvelle solution, ce livre se veut une autre façon de formuler une énigme posée depuis plus de mille cinq cents ans« (S. 12).

Nun ist es in Frankreich keineswegs so, dass sich für jene weit entfernten Begebenheiten, die sich vor rund 1500 Jahren möglicherweise in einem Reimser Baptisterium zugetragen haben, nur eine Handvoll Spezialisten erwärmen könnte. Das obskure Ereignis wurde vielmehr zu einem mythe fondateur; aus der christlichen Initiation eines lokalen Barbarenfürsten wurde gleichsam ein Initialmoment der französischen Geschichte. Wo aber geschichtliche Ereignisse zu Mythen werden, da hat es die nüchterne, mitunter auch ernüchternde historische Kritik bekanntermaßen nicht leicht. Genau hier setzt Dumézil an.

Nach einem Überblick über die vielfältigen ideologischen Kontroversen, die sich an den staatstragenden Jubiläumsfeierlichkeiten von 1996 entzündeten – eine laizistische Republik feiert einen katholischen König! –, konfrontiert Dumézil seine frankophone Leserschaft mit der historischen Evidenz. Ausgehend von der 42. Epistel des Avitus von Vienne (dem einzigen erhaltenen Zeitzeugnis), führt er dem Leser anschaulich vor Augen, wie bruchstückhaft unser Wissen über Chlodwig und seine Zeit letztendlich ist, wieviel von dem, was mancher für historische Gewissheit halten mag, auf mehr oder minder plausiblen Annahmen beruht, während wir uns epistemisch auf äußerst dünnem Eis bewegen.

Um seinem Publikum – der Verfasser dürfte insbesondere historisch interessierte Laien und Studierende im Blick haben – mehr Kontext zu geben, muss Dumézil weit ausholen: Er beginnt mit der Integration barbarischer Stammesverbände in das Imperium Romanum (S. 37–62) und kommt auf die keineswegs unumstrittene Frühgeschichte des fränkischen Königtums sprechen (S. 63–91). Erfrischenderweise und dem Gegenstand durchaus angemessen, betont Dumézil immer wieder die begrenzte Aussagekraft des – gerade auch archäologischen – Quellenmaterials und stellt somit lieber Fragen, als seinen Leserinnen und Lesern einfache Antworten vorzusetzen.

Da auch die Konversion eines Königs nicht allein ein politisches, sondern auch ein religiöses Ereignis ist, geht Dumézil anschließend breit auf die verschiedenen dogmatischen Kontroversen des 4. und 5. Jahrhunderts ein, die ja bekanntlich auch für das Barbaricum nicht ohne Folgen blieben (S. 92–130). Die Annahme, dass Avitus mit den scismatum sectatores, die den königlichen Katechumenen umworben hätten, die Anhänger des byzantinerfreundlichen (Gegen)papstes Laurentius gemeint habe, ist originell, zumal sich für Chlodwig eine Hinwendung zu Ostrom plausibel machen lässt. Doch war Chlodwig, dessen herrschaftlicher Schwerpunkt immerhin im »papstfernen« Nordgallien lag, überhaupt genötigt, sich zum innerrömischen Schisma explizit zu positionieren?

Die beiden folgenden Kapitel handeln von der fränkischen Expansion während Chlodwigs Königsherrschaft (S. 131–167). Interessant ist die Frage, weshalb Cassiodor, als er gegen Ende der 530er Jahre seine »Variae« publizierte, gerade diejenigen Briefe, die Theoderichs Einsatz für die pax Ostrogothica dokumentieren, an prominenter Stelle platzierte. Schließlich handelte es sich um ein Projekt, das noch zu Lebzeiten des großen Amalers, nicht zuletzt durch Chlodwigs militärische Erfolge, scheitern sollte! In den Synodaldekreten von Orléans, die zweifellos auch dazu beitragen sollten, Chlodwigs Neueroberungen in das Regnum Francorum zu integrieren, sieht Dumézil zuvorderst den Willen des Herrschers am Werk, der um den Episkopat werben wollte; ähnlich beurteilt er auch das Konzil von Agde, das 506 unter Alarich II. getagt hatte.

In den folgenden zwei Kapiteln (S. 168–201) geht es um Chlodwigs Nachleben bis zum Ende der Merowingerzeit: Während die Söhne eher ihren eigenen Ruhm im Sinn gehabt hätten – als Indiz sieht Dumézil die Erbauung der neuen Königsnekropolen Saint-Vincent in Paris (Childebert I.) und Saint-Médard in Soissons (Chlothar I.) –, sei Chlodwig erst von Gregor von Tours gleichsam »wiederentdeckt« worden. Dieser habe ihn insbesondere als historisches Argument gegenüber seinen königlichen Nachkommen, die Gregors Zeitgenossen waren, in Stellung gebracht. So erscheint Chlodwigs kompromissloses Verhalten gegenüber Plünderern von Kirchengut (Stichwort: »Krug von Soissons«) als implizite Aufforderung an seine Enkel und Urenkel, es ihrem großen Ahnen gleichzutun.

Weniger überzeugend scheint dem Rezensenten die Hypothese, dass Gregor die Beteiligung des Remigius an Chlodwigs Taufe schlichtweg erfunden habe, um hierdurch den Bischofssitz seines eigenen Ordinators, Egidius von Reims, aufzuwerten. Wenn Nicetius von Trier in seinem Brief an Chlodoswintha (»Epistula Austrasiaca« 8) nur knapp auf Chlodwigs Taufgelübde am Martinsgrab in Tours zu sprechen kommt, dann kann daraus kaum geschlossen werden, dass er von dessen Taufe in Reims nichts wusste. Schließlich setzte Nicetius, wie er selber sagt, voraus, dass seine Adressatin über Chlodwigs Konversion aus den Erzählungen ihrer Großmutter Chrodechilde bereits bestens unterrichtet war.

Anschließend kommt Dumézil auf das unvermeidliche Datierungsproblem zu sprechen (S. 202–220). Dass dieses Unterfangen auch nach scheinbar endlosen Historikerdebatten eine Herausforderung (»enjeu«) bleibt, weiß Dumézil allzu gut. Doch sei der Versuch, die Taufe zu datieren, eben auch ein Spiel (»un jeu«). Nachdem der Verfasser die Früh- und Spätdatierung diskutiert und sich für einen Mittelweg ausgesprochen hat (d. h. 501/507), lädt er den Leser ein, sich auf das Spiel einzulassen. Was wäre denn, hätte Avitus seinen vieldiskutierten Brief nicht an Chlodwig, sondern an den Burgunderprinzen Sigismund adressiert?

Auch vor dieser Voraussetzung, so lautet die verblüffende und völlig plausible Antwort, würden der Inhalt und die vielschichtigen Anspielungen Sinn ergeben: »Gewiss, es gibt keinen objektiven Grund zu glauben, Avitus’ 42. Brief sei an Sigismund, und nicht an Chlodwig geschickt worden. Aber in einem derart unklaren Schriftstück wird der Leser immer finden, wonach er sucht« (S. 219).

Zum Abschluss begibt sich Dumézil noch auf eine Reise durch Mittelalter und Neuzeit (S. 221–268); man erfährt, wie der Gegenstand des Buches zu einem nationalen Mythos werden konnte und somit eben doch – wie es der Reihentitel voraussetzt – zu jenen Ereignissen gezählt werden kann, die Frankreich »gemacht« haben.

Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch. Der Verfasser besitzt die seltene Gabe, einem breiten Publikum die ferne Welt des Frühmittelalters näher zu bringen, ohne dabei unzulässige Vereinfachungen in Kauf zu nehmen. Dass all das auf humorvolle und unterhaltsame Weise geschieht, ist gewiss kein Nachteil.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Bruno Dumézil (éd.), Le Baptême de Clovis. 24 décembre 505?, Paris (Gallimard) 2019, 314 p. (Les Journées qui ont fait la France), ISBN 978-2-07-269067-9, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75550