Was lange währt, wird endlich gut. Das gilt ohne Zweifel für die jüngst publizierte kritische Ausgabe der »Casus sancti Galli« Ekkeharts IV. (geboren um 980, gestorben gegen 1057). Ihre Anfänge reichen in die Mitte der 1950er Jahre zurück: zunächst oblag Hanno Helbling der Editionsauftrag der Monumenta Germaniae Historica, ihm folgten 1958 Hans Frieder Haefele, der bis zu seinem Tode 1997 daran arbeitete, und 1999 Ernst Tremp, der seit 2000 als Stiftsbibliothekar von St. Gallen der Überlieferung und den handschriftlichen Quellen Ekkeharts besonders nahe war (S. V–XI). Ihm stand zuletzt Franziska Schnoor zur Seite, die Haefeles lateinischen Text und seine Übersetzung revidierte und den Wortindex kompilierte. Auf dem Weg erschienen deutsche Übersetzungen durch Helbling und Haefele1, dazu grundlegende Aufsätze von Haefele und Tremp, die in Einleitung und Kommentar passim aufgerufen werden.

Der Band folgt dem klassischen Aufbau einer MGH-Ausgabe: die Einleitung (S. 1–93) orientiert knapp über Ekkeharts Biografie und Œuvre (S. 1–13), um sich ausführlicher den »Casus« selbst (S. 14–50), ihrem Fortleben und den materiellen Grundlagen der Edition (S. 51–93) zuzuwenden. Die Präliminarien runden Abkürzungsverzeichnis und Bibliografie ab (S. 94–111).

Ekkehart nahm seine »Casus« nach dem Ende seiner Zeit als Leiter der Mainzer Domschule (1022–1031) in St. Gallen in Angriff und wollte mit ihnen an Ratperts 884 endende »Casus« anknüpfen, die er in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 614 konsultierte2; er führte sie bis 972 fort und konnte damit den in der Vorrede skizzierten Plan, bis in die eigene Zeit, den Abbatiat Norperts, voranzuschreiten, nicht umsetzen. Wie Ratpert richtete Ekkehart sein Augenmerk auf die »schicksalhaften Wechselfälle« (S. 15f.), die das Kloster im Guten wie im Schlechten trafen und die er programmatisch in der Vorrede und immer wieder im Text mit den Leitbegriffen fortunia, infortunia, tragedia (letzteres neunmal belegt) beschrieb.

Die neue Ausgabe lässt noch deutlicher erkennen, wie stark Ekkehart im Gegensatz zu Ratperts als »Gesta abbatum« (Abtgeschichte) konzipiertem Werk einerseits die »Schul- und Literaturgeschichte«, die kulturellen Leistungen St. Gallens gewichtete (S. 49), wie sehr die »Casus« auf der anderen Seite auf die »Regula Benedicti« referieren (S. 25f.): Ekkehart spart nicht mit Kritik an Abweichungen von der Regel und überkommenem Brauch und positioniert sich gegen von außen, aus Stablo und Trier, aufgezwungene Reformen.

Mit viel Sympathie und fast schon apologetischem Eifer würdigt Tremp auf den Spuren Haefeles Sprache und Stil Ekkeharts (S. 38-46), dessen Konstruktionen nicht immer von schlichter Klarheit sind, dessen Wortschatz beachtlich und kreativ ist (genannt seien gewitzte Wortschöpfungen wie praemonachus, nudimanus, dyptire, ingrandinare oder errovagari), und bricht eine Lanze für seine Relevanz und Glaubwürdigkeit als Historiker (S. 46–49) ‒ an seinem erzählerischen Geschick und dem Reiz seiner oft anekdotisch anmutenden Geschichten sind wohl nie Zweifel geäußert worden. Sie bescherten den »Casus« im 19. und frühen 20. Jahrhundert vermittels Joseph Victor von Scheffel und Gustav Freytag eine Popularität sondergleichen (S. 57–61).

Ihr mittelalterlicher Wirkungskreis ist dagegen eng bemessen und auf St. Gallen und das Umfeld (Konstanz, Petershausen) begrenzt. Die handschriftliche Tradition ist offensichtlich von luzider Klarheit und ausnahmslos auf St. Gallen beschränkt. Ihr Ausgangspunkt ist der nicht mehr ganz intakte Cod. Sang. 615 (Sigle B, um 1200; https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0615), der mutmaßlich auf das verlorene Autograf Ekkeharts zurückgeht.

Von ihm sind direkt oder indirekt fünf Kopien des 15. und 16. Jahrhunderts abgeleitet, die zugleich Dokumente eines erneuerten Interesses an der lokalen Geschichtsschreibung sind und Benutzungsspuren namhafter frühneuzeitlicher Historiker (Joachim von Watt / Vadian, Aegidius Tschudi) zeigen (vgl. das Stemma S. 84). Sie vereinen ein klostergeschichtliches Textensemble mit Ratpert an der Spitze3, auf den die »Casus« Ekkeharts folgen, ihrerseits fortgeschrieben von einem anonymen Continuator (bis 1203) und wenig später von Conradus de Fabaria (übersichtlich präsentiert S. 77). An die Seite der direkten Textzeugen treten umfangreiche Exzerpte aus B in der um 1230 anzusetzenden, im Cod. Sang. 556 als Autograf erhaltenen »Vita beati Notkeri Balbuli« eines Anonymus.

Füglich gründet wie seit Ildefons von Arx üblich die Ausgabe auf der Handschrift B, deren mechanisch eingetretene Textverluste nach den jüngeren direkten Abschriften C (Cod. Sang. 612) und D (St. Gallen, Kantonsbibliothek, Vadianische Sammlung, Ms. 70) ergänzt werden (vgl. jedoch die nicht sanierbare Textlücke cap. 46 [S. 270]). Die Editoren gehen mit B entsprechend behutsam um und belassen auch mehr oder minder manifeste Versehen Ekkeharts (vgl. S. 166, Anm. 16, 19 zu unum und monachum) oder des Kopisten im Text: so wird cap. 5 (S. 130, 12) in quoad vixeris eine interpolierte Glosse vermutet, die jedoch nicht athetiert wird.

Ekkeharts »Casus« sind im Laufe der Zeit mehrfach gedruckt und übersetzt worden: nach der Editio princeps von Melchior Goldast (1606) legte erstmals Ildefons von Arx B seinem Text zugrunde (MGH. SS 2, 1829, S. 75–147) wie Gerold Meyer von Knonau (1877), der die auch in diese Ausgabe übernommene, durch B nicht völlig gestützte Einteilung in 147 Kapitel vornahm und einen umfänglichen Kommentar beigab. Deutsche Übersetzungen von Gerold Meyer von Knonau, Placid Bütler, Hanno Helbling und zuletzt Hans Frieder Haefele förderten das Verständnis der »Casus«.

Der lateinische Text der »Casus« wird hier mit paralleler deutscher Übersetzung (S. 114–543) geboten und durch zwei Apparate für Varianten und Kommentar erschlossen, wobei auf den Kommentar vom lateinischen wie vom deutschen Text aus verwiesen wird. Die Übersetzung ist eine behutsam überarbeitete Fassung der Haefeleschen, die sehr schön die Balance zwischen Textnähe und Lesbarkeit hält. Im Variantenapparat wird B minutiös erfasst, auch Aspekte des Layouts (Rubrizierung, Versalien, Initialen, Neumierung); bisweilen sind die mitgeteilten Varianten aus C D verzichtbar (etwa S. 334, 3 multotiens C D zu multoties B).

Regelmäßig werden die nicht durch Textzeugen gestützten Abweichungen der älteren Editionen gebucht. Kernstück dieses Teiles ist indes der Kommentar, den Haefele nur bis cap. 45 ausgearbeitet hatte: hier war also vieles nachzutragen, zu aktualisieren oder erst zu leisten. Im Kommentar werden die Realien knapp, aber ausreichend erläutert, Zitate und Anklänge treffend nachgewiesen. Hilfreich sind die Erklärungen zu sprachlich schwierigen Stellen und zum lateinischen Humor Ekkeharts, den man nach 1000 Jahren nicht immer auf der Stelle erfasst.

Besonders gelungen ist die Verortung der »Casus« im weiteren Werk Ekkeharts (namentlich im »Liber benedictionum« und in den Glossen4), im geistigen Umfeld des Klosters und seinem Handschriftenbestand. Deutlich werden auch die musikalischen Interessen Ekkeharts, die in neumierten Initien in B aufscheinen; sie gehen gewiss auf das verlorene Autograph zurück (S. 65, 78–82).

Die Ausgabe ist in jeder Hinsicht mit großer Sorgfalt besorgt worden, und der Rezensent kann nur wenig ergänzen:

S. 20 wird der Hoftag von Ingelheim versehentlich 930 angesetzt (das richtige Datum 1030 auf S. 4 und 334 genannt).

Cap. 1 (Schluss, S. 118, 9f.) ad ordinem incępti operis revertamur erinnert nach den Sallust-Reminiszenzen im pręloquium und später in cap. 2 (S. 114f., 120f.) vielleicht nicht zufällig an Sallust, Iug. 4, 9 nunc ad inceptum redeo, auch wenn die Formulierung in biografischen und historiografischen Texten natürlich verbreitet ist.

Cap. 49 (S. 284, 3f.) hätte der Hexameter Henrich quippe comes, Mathilda coniuge clarus (nach Hrotsvit, Gesta 22) deutlicher markiert werden können.

Cap. 52 (S. 296, 9f.) werden zu in sententia permanens Ciceros Briefe an Atticus ausgemacht; der Ausdruck ist freilich nicht so exquisit und findet sich zum Beispiel häufiger bei Augustinus.

Cap. 64 (S. 328, 6f.) wird für die Formulierung navibus ipsis pontibus iunctis auf den seltenen Ammianus Marcellinus verwiesen, ähnliche Wendungen sind leichter bei Caesar (Bellum civile 1, 61, 6) oder Eutropius (4, 22) auszuheben.

In cap. 91 (S. 402, 8–10) linguam quoque malignam […] dilatabat klingt mit Bedacht Is 57, 4 super quem lusistis super quem dilatastis os et eiecistis linguam […] filii scelesti an.

Zu cap. 91 (S. 404, 9f.) homo ad omnia circumspectus sei auf Gregor den Großen verwiesen (Moralia in Iob 22, 1 und Homiliae in Ez 2, 7, 137), der durchaus im Blickfeld Ekkeharts liegt (vgl. die Übersicht S. 555).

Cap. 136 (S. 516, 2) erinnert impiger hausit gezielt an Vergil, Aen. 1, 738.

Von cap. 136 (S. 516, 21) dives opum hätte auf cap. 3 (S. 122, 19 mit Anm. 14) verwiesen werden können.

Verzeichnisse zitierter Handschriften (S. 547f., überwiegend natürlich Sangallenses), der Zitate und Anklänge (S. 549–559), unter denen die lateinische Bibel, die »Regula Benedicti«, Terenz (oft in dialogischen Partien) und Vergil (etwa cap. 6 [S. 132, 8f.] Ratpert in den Mund gelegt) prominent vertreten sind, der Gedichtanfänge (S. 560) und Namen (S. 561–575) erschließen Text und Kommentar. Ein mit 4500 Lemmata beeindruckender Index der lateinischen Wörter (S. 576–688; mit Angabe von Junkturen, aber ohne Übersetzungen) und ein mit 12 Einträgen sehr überschaubarer der volkssprachigen, unter denen Ausrufe dominieren (S. 688, vgl. etwa cap. 88 [S. 392]), runden das Werk ab. Zwei kleine Anmerkung seien erlaubt: frustrare und frustare werden unter einem Lemma vereinigt (S. 615), dabei sind S. 156, 9 frustata (»in Scherben«) und S. 342, 4 frustati (statt frustrati) doch zu unterscheiden. Warum Initien nochmals im Index verborum gebucht werden, ist nicht recht ersichtlich.

Ernst Tremp und Franziska Schnoor haben eine gediegene, nahezu fehlerfreie Ausgabe der »Casus« vorgelegt, die eine sichere Grundlage für die künftige Beschäftigung mit dieser Quelle sein wird. Sie haben die schwierige Aufgabe, das Lebenswerk eines anderen zu Ende zu führen, pietätvoll und doch mit eigenen Akzenten bewältigt.

1 Hanno Helbling (Übers.), Ekkehard IV., Die Geschichten des Klosters St. Gallen, Köln, Graz 1958 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 3. Gesamtausgabe, 102); Hans Frieder Haefele (Hg./Übers.), Ekkehardi IV. Casus sancti Galli/Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, mit einem Nachtrag von Steffen Patzold, Darmstadt 52013 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, 10).
2 Hannes Steiner (Hg./Übers.), Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), Hannover 2002 (MGH. SS rer. Germ., 75), S. 81–84.
3 Analoge Beobachtungen bei Steiner (Hg./Übers.), Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (wie Anm. 2), S. 84–94, 98–102, vor allem das Stemma S. 102.
4 Etwa die Glossen zu Orosius in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 621, die Heidi Eisenhut digital erschlossen hat: http://orosius.monumenta.ch; siehe auch Heidi Eisenhut, Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621, St. Gallen 2009 (Monasterium Sancti Galli, 4).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Orth, Rezension von/compte rendu de: Hans F. Haefele (†), Ernst Tremp (ed./Übers.), unter Mitarbeit von Franziska Schnoor, Ekkehart IV. St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2020, XIV–688 S., 1 Diagr., 2 Tab. (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 82), ISBN 978-3-447-11178-2, EUR 98,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75553