Dieses Buch behandelt die Entwicklung der Gerichtshoheit in England im 11. und 12. Jahrhundert und damit eine die Mittelalterforschung seit Langem umtreibende Frage: Wie etablierten Herren jenseits des Königs ihre Gerichtshoheiten? Nicholas Karn hat dazu nun eine überaus kundige Studie vorgelegt, die aufgrund ihrer sehr umsichtigen und quellengesättigten Behandlung der Materie nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Forschungsdiskussion liefert, sondern auch den Einstieg in die komplexe Welt englischer Gerichtsbarkeiten ermöglicht.
Im Rückgriff auf die Forschungen zum angelsächsischen England geht Karn davon aus, dass sich im 10. Jahrhundert die Gerichte der Grafschaften und ihrer Subeinheiten, der Hundertschaften, ausgebildet hätten. In diesen Gerichten seien sämtliche Angelegenheiten verhandelt worden, eine Unterscheidung in königliche und nichtkönigliche Gerichte habe es nicht gegeben. Ein wesentlicher Grund dafür sei die Vielfachbindung der Männer im angelsächsischen Königreich gewesen. In der Regel besaß ein Mann personale Bindungen nicht nur zu einem, sondern zu verschiedenen Herren, sodass die Entwicklung ausschließlicher Gerichtshoheiten schwierig gewesen sei. Das aber habe sich nach der normannischen Eroberung geändert, indem einzelne Herren die Hoheit über Hundertschaften vom König erhielten oder sich aneigneten.
Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielten die halimota, Subeinheiten der Hundertschaften, die klein genug waren, um einzelne Herren in die Lage zu versetzen, sie ihrer Autorität und Gerichtshoheit zu unterwerfen und auf diese Weise die Hundertschaften und ihre Gerichte neu zu konfigurieren. Hier hätten die späteren manor courts, die Gerichte, in denen die Herren über ihre Leute richteten, ihren Ursprung. Mehr noch, diese Entwicklung habe wesentlich dazu beigetragen, dass Männer überhaupt in eine exklusive Abhängigkeit zu einem Herrn gerieten.
Als Reaktion auf diese Veränderungen zugunsten anderer Herren habe König Heinrich I. 1108 darauf bestanden, dass die Hundertschaften unter königlicher Hoheit stünden. Eine Dichotomie von königlichen und nichtköniglichen Gerichtshoheiten wird hier erstmals deutlich fassbar. Außerdem habe sich in seiner Herrschaft eine Unterscheidung der zuvor mehr oder weniger synonym verwendeten Begriffe curia und placitum etabliert. Während curia nun auf das Gericht verwies, wurde placitum zunehmend der Begriff für Klagen, die das Königtum für sich reservierte. Eine weitere Entwicklung zur Stärkung königlicher Interessen in den Grafschaften war die Einführung von königlichen Amtleuten (justices), die vor Ort Klage in Angelegenheiten des Königs führten.
Nicholas Karn entwickelt seine überzeugende Argumentation auf der Basis einer exzellenten Quellenkenntnis und nimmt sich die Zeit, seine Gedankengänge klar und nachvollziehbar zu erläutern. Er hält sich aber in bemerkenswerter Weise zurück, wenn es darum geht, seine Befunde in zwei große Debatten der englischen Mediävistik einzuordnen: die Debatte um den angelsächsischen Staat und, eng damit verbunden, die Frage des Einflusses der normannischen Eroberung von 1066. So ist beispielsweise zu fragen, ob der Zustand des späten 10. und frühen 11. Jahrhunderts eher die Ausnahme als die Regel darstellte und inwiefern angelsächsische Herren ihrerseits eine Aneignung von Gerichtshoheiten verfolgten.
Sollte diese Entwicklung tatsächlich erst auf die normannischen Eroberer zurückzuführen sein, stellt sich die Frage, inwieweit dies Praktiken waren, die aus der Normandie eingeführt wurden oder ob sie ein Resultat des gemeinsamen Eroberns durch Herzog und Magnaten waren, der Sieg also keineswegs nur dem Ausbau königlicher Autorität Vorschub leistete. Dies sind nur einige der Fragen, die sich aus der stimulierenden Arbeit von Nicholas Karn für die weitere Forschung ergeben. Seinem Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Peltzer, Rezension von/compte rendu de: Nicholas Karn, Kings, Lords and Courts in Anglo-Norman England, Woodbridge (The Boydell Press) 2020, XII–259 p., ISBN 978-1-783274864, GBP 60,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75557