Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Dissertationsschrift Marco Krätschmers, die im Jahr 2017 in Tübingen angenommen wurde. Entstanden ist sie im Rahmen des dortigen Sonderforschungsbereichs 1070 »RessourcenKulturen«.
Der Autor eröffnet sein Werk mit einer ausgesprochen umfangreichen Einleitung, die mit 92 Seiten beinahe ein Fünftel des gesamten Buches umfasst und alle Thematiken anspricht, die im weiteren Verlauf der Abhandlung zur Sprache kommen.
Zum Einstieg wählt Krätschmer das bekannte St. Galler Beispiel des Mönchs Wolo, der aufgrund seiner Klausurierung die Welt wenigstens sehen wollte, auf einen Turm stieg, dabei verunglückte, aber durch die Liebe seiner Gemeinschaft letztendlich doch noch in den Himmel gelangte. Diese Episode demonstriere, dass Klostergeschichte weniger vom »Scheitern zwischen Ideal und Wirklichkeit bestimmt werde, wie es das zyklische Dekadenz-Reform-Narrativ suggeriert« (S. 40), sondern vom Spannungsfeld der »Interiora und Exteriora« bewegt sei, das der Autor ab S. 21 »als zeitgenössische Kontroverse« vorstellt, um (nach einer Zusammenfassung des Forschungsstandes zum typisch benediktinischen Paradigma des Lebens zwischen Regel und Abt) auf jene discretio als mater virtutum und deren Gefahren zu sprechen zu kommen.
Innerhalb seiner Einleitung bewertet Krätschmer sodann ausführlich die ältere Reformforschung von Hallinger, Sackur und Schieffer über Tellenbach und Wollasch bis hin zu moderneren Ansätzen um Melville, Patzold und namentlich Vanderputten. Auch Begriffe, wie »Institutionalität«, kommen hier zu Sprache. Den letztgenannten Autoren schließt sich Krätschmer an. Dies gilt auch für den Charakter der consuetudines, der Rolle der memoria und der Klosterwirtschaft, die im Falle des Florierens keineswegs eine sittliche Dekadenz innerhalb des Konvents zur Folge haben musste, sondern stattdessen häufig gerade mit einer spirituellen Blühte einhergehen konnte. Dabei lässt der Autor bereits anklingen, dass es vor allem die Äbte waren, mit denen sich die Schicksale der Klöster verbanden, weniger mit Reformbewegungen im Allgemeinen.
Erst jetzt, ab S. 72 – und ein wenig spät, möchte man meinen –, wird das eigentliche Anliegen der Arbeit deutlicher formuliert. Das Buch setzt sich zum Ziel, die Begrifflichkeiten der Reform und Krise für das benediktinische Mönchtum des 9. bis 12. Jahrhunderts an konkreten Beispielen des alemannischen Raums zu hinterfragen und stattdessen die Rolle des Abts und seiner discretio, der Unterscheidungsfähigkeit im Hinblick auf die Regel, innerhalb eines permanenten Spannungsfeldes von »Innen und Außen«, »Kloster und Welt«, »interiora und exteriora« herauszustellen. Dabei, so der Autor, geht es ihm nicht darum, den Reformbegriff zu klären, sondern »wie die Zeitgenossen ihre klösterliche Existenz beschreiben und über ihre vergangenen Realitäten berichten« und wie sich Innen und Außen gegenseitig bedingen (S. 72).
Hierfür zieht Krätschmer die einschlägigen Klosterchroniken der »monastischen Landschaft« Alemanniens heran. Tatsächlich eignet sich dieser Raum aufgrund seiner Erneuerungsbewegungen um Hirsau oder St. Blasien besonders für eine solche Analyse.
Der umfangreichen Einleitung folgt ein weiterer Abschnitt zu den »Grundlagen«. Dieser umschließt ein dezidierteres Kapitel zur Unterscheidungskunst des Abts, die dem Band seinen Namen gab (S. 95–116), gefolgt von den gängigen Dichotomien der »Herrschaft zwischen Kloster und Welt« (Abt und Gemeinschaft, Abt und consuetudines, Abt und Brüder, Abt und wirtschaftliche Belange) (S. 116–153).
Den eigentlichen Hauptteil des Buches bilden drei Fallbeispiele. Hier durchleuchtet Krätschmer sukzessive die Chroniken der Klöster Zwiefalten, St. Gallen und Petershausen. Für Zwiefalten (S. 154–202) zieht er die Chronik der Mönche Ortlieb und Berthold heran, die Einblicke in die »Austauschprozesse von Innen und Außen« gewährt und Wohlstand als Ausweis und Bedingung spirituellen Lebens (S. 199f.) andeutet. Dabei zeigt Krätschmer die Relevanz des Abtes auf, der durchaus im Rahmen seiner discretio eigene Entscheidungen treffen und selbst von in den consuetudines überlieferten Ritualen des Alltags abweichen konnte (S. 202). Diese in der Chronik aufscheinende discretio untermauert er mit dem Briefwechsel Bertholds mit Hildegard von Bingen, für welche die discretio einen »innerlich-charakterlischen Wert« einer Führungspersönlichkeit meine, die das Gleichgewicht zwischen interiora und exteriora konservieren oder herstellen müsse (S. 201).
Einen mit 41 Seiten beinahe dreifachen Umfang (S. 202–243) nehmen die »Casus s. Galli« und ihre Fortsetzung ein. Auch hier werde der Abt als Schlüsselfigur (S. 215) präsentiert, wobei Krätschmer die Geschichten Salomos III. als homo fortunatus, Hartmanns, Engilberts, Thietos, Cralohs, Burchards I., Notkers und Sandrats, Norberts, Ulrichs III. oder Heinrichs II. expliziert, um die vielfältigen Einflüsse der Äbte auf Wirtschaft und Spiritualität, Königsnähe und Königsferne, Blühte und Krise ihres Klosters zu veranschaulichen. Selbst kriegerische Handlungen oder die Abtrennung der mensa abbatis seien im Rahmen der discretio durch den Chronisten akzeptiert worden.
Ein drittes Fallbeispiel schließlich gibt die Chronik des Klosters Petershausen (S. 344–423) an die Hand, das angesichts seines ursprünglichen Charakters als bischöfliches Eigenkloster und seiner Übernahme der Hirsauer Gewohnheiten zwischen die politischen Fronten des 11. und 12. Jahrhunderts geraten war. Dieser Chronik widmet der Autor ca. 80 Seiten (S. 344–423). Erneut dominieren Episoden um Klosterwirtschaft, Besitzkonflikte oder eine kostspielige Abtswohnung. Wieder stellt der Autor den umstrittenen Analysemodellen »Hirsauer Reformkloster« und »bischöfliches Eigenkloster« das Verhältnis von interiora und exteriora in der Wahrnehmung des Chronisten gegenüber. Überhaupt sei es das Ziel der Chronik gewesen, die Balance der interiora und exteriora aus der Zeit der Klostergründung als Idealzustand zu charakterisieren und diesen (auch in schweren Zeiten) quasi fortzuschreiben.
In seiner Zusammenfassung betont Krätschmer noch einmal zu Recht, dass Klosterwirtschaft und spirituelle Blüte kein Gegensatz sind, sondern zumeist ineinandergriffen, und dass gerade das Verhalten der Äbte in der zeitgenössischen Wahrnehmung den stärksten Einfluss auf das Schicksal ihrer Gemeinschaften hatte (S. 430). Blüte und Verfall bildeten also keinen »Automatismus«, wie es das Forschungsnarrativ monastischer Reformen (S. 425-431) suggeriere. Das Innen-Außen-Modell sei demgegenüber weit besser geeignet, die räumlich-physischen Gegebenheiten, die ideell-imaginären Vorstellungen über die Wechselbeziehungen zwischen Kloster und Außenwelt und die Diversität monastischer Lebensformen zu analysieren (S. 445).
Als weitere Forschungsperspektiven benennt der Autor zum Abschluss (1) eine Untersuchung, inwiefern die verfassungsrechtlichen Konzepte von »Reichs-«, »Bischofs-«, und »Reformkloster« den jeweiligen Charakter einer Klosterreform tatsächlich beschreiben können, (2) eine Analyse der Rolle der Klostervögte und (3) eine solche des Laienabbatiats (S. 447–450). Karten, eine Übersicht über die alemannischen Klosterchroniken, Listen der Äbte, ausgewählte Testvergleiche sowie ein Personen- und Ortregister runden den Band ab.
Obwohl man sich in einigen Passagen eine stärkere Einbindung des »Innen«, mithin der Spiritualität, gewünscht hätte, etwa der fundamentalen Praefatio der Chronik von Petershausen, die auf S. 420 nur knapp angesprochen wird, und obwohl einige der Ergebnisse nicht mehr ganz so neu sind, ist dem Autor eine komplexe Studie gelungen, die nicht nur einen immensen Forschungsstand einbindet, von hohem Fleiß zeugt und sehr gut redigiert wurde, sondern auch für den Befass mit den genannten drei Klöstern von hohem Wert ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Sonntag, Rezension von/compte rendu de: Marco Krätschmer, Die discretio des Abtes. Kloster und Außenwelt im hochmittelalterlichen Alemannien, Stuttgart (Anton Hiersemann) 2019, 516 S. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 66), ISBN 978-3-7772-1907-3, EUR 148,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75559