Das 10. Jahrhundert galt lange als Zeit des kulturellen und intellektuellen Tiefstands und des politischen Niedergangs, eingefasst zwischen dem 9. Jahrhundert mit seiner »karolingischen Erneuerung« und dem Glanz des karolingischen Kaisertums einerseits und dem 11. Jahrhundert andererseits, das gekennzeichnet sei von einem intellektuellen Aufbruch im Zuge von Kirchenreform und Investiturstreit. Insbesondere für das Westfrankenreich des 10. Jahrhunderts wurde ein Verfall königlicher Autorität zugunsten autonomer lokal-regionaler Magnaten im Nachgang der Auflösung des karolingischen Großreiches konstatiert. In den letzten Jahren wurde dieses Paradigma durch neue Studien zur Geschichte, Gesellschaft und Kultur des 10. Jahrhunderts aufgebrochen, die nicht mehr nur Königsherrschaft zum Gradmesser soziopolitischer Ordnung und die Anzahl produzierter Handschriften zum Maßstab kultureller Blüte erheben; mittlerweile werden zum einen Kontinuitäten zur karolingischen Zeit, zum anderen die Eigenständigkeit und das Innovative der postkarolingischen Zeit betont.
In die Reihe dieser Arbeiten stellt sich Roberts mit seiner Studie über den westfränkischen Geschichtsschreiber Flodoard von Reims (894–966). Vor dem Hintergrund der Neubewertung des 10. Jahrhunderts untersucht Roberts am Beispiel eines der wenigen Schlüsselautoren spätkarolingisch-frühkapetingischer Zeit das Zusammenspiel aus Form und Inhalt von Geschichtsschreibung, soziopolitischem Wandel, auktorialer Individualität und Intention sowie Rezeption und Rezipientenkreis. Roberts will zeigen, dass Flodoard nicht der bescheidene Kleriker oder unbedarft-unpolitische Historiograf war, für den er ob seines nüchternen, lakonischen Stils vielfach gehalten wird.
Im Gegenteil, so Robertsʼ Prämisse, sei Flodoard höchst engagiert gewesen und habe mit seinen Schriften in den politischen, religiösen und kulturellen Debatten seiner Zeit die Stimme erhoben. Insbesondere mit dem »Reimser Schisma«, das sein Leben überschatten sollte, hatten die politischen Erschütterungen des Westfrankenreiches Flodoards Wirkungsstätte erreicht, wo die Anhänger der Karolinger, Robertiner und des Hauses Vermandois um den Einfluss über das königliche Zentrum und reich begüterte Erzbistum Reims rangen, wobei Flodoard zwischen die Fronten geriet.
Nun ist über Flodoard vielfach gehandelt worden. Roberts hebt sich von früheren Studien zum einen dadurch ab, dass er die Werke Flodoards im Lichte dessen bisher verkannten politischen Aktivitäten kontextualisiert. Als Vertrauter der Reimser Metropoliten, in deren Auftrag er Gesandtschaften an die päpstliche Kurie in Rom und an den ottonischen Königshof unternahm, hatte er persönlichen Umgang mit den weltlichen und geistlichen Großen seiner Tage. Solche Teilhabe an den politischen Ereignissen und das Bewusstsein für die komplexe politische Situation des Westfrankenreiches über die Grenzen der Diözese Reims hinaus haben Flodoards historiografisches Schaffen beeinflusst, so Roberts. Die Betrachtung des Zusammenspiels von soziopolitischem Kontext und auktorialen narrativen Strategien werde, so Roberts weiter, zu einer nuancierteren Sicht auf das 10. Jahrhundert als Periode des Übergangs von karolingischer zu postkarolingischer Zeit beitragen. Zum anderen wird in Roberts Arbeit erstmals das gesamte Œuvre des Reimser Kanonikers einer Analyse unterzogen: »Historia ecclesiae Remensis«, »Annales«, »De triumphis Christi«, »Visiones Flothildis«. Diese vier Werke sind es denn auch, die grob die Struktur der Studie vorgeben, indem in jedem der fünf Hauptkapitel einer der Texte im Fokus steht.
Den Hauptkapiteln ist eine Einleitung (S. 1–28) vorangestellt. Diese enthält neben einem kurzen Abriss der Biografie Flodoards und der Geschichte des Westfrankenreiches im 10. Jahrhundert eine Einführung in den Forschungsstand zum Reimser Kanoniker und zur Geschichtsschreibung im 10. Jahrhundert. Darüber hinaus werden einige theoretisch-methodische Bemerkungen vorausgeschickt. So referiert Roberts den Einfluss des linguistic turn auf die Geschichtswissenschaft, der Historikerinnen und Historiker nicht nur für die Rekonstruierbarkeit von Vergangenheit sensibilisiert und zur Aufnahme literaturkritischer Methoden in das Repertoire geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik geführt habe, was beides allerdings weitgehend folgenlos für Roberts Studie bleibt. Auch der Konnex aus Rezipientenkreis, Form und Inhalt von Geschichtsschreibung sei hiermit stärker ins Bewusstsein gerückt.
In dieser Hinsicht will Roberts die Arbeiten von Gabrielle Spiegel, Helmut Reimitz u. a. fruchtbar machen, die unter Berücksichtigung von Materialität und Kontextualität Texte nicht bloß als Produkte ihrer Umwelt betrachten, sondern untersuchen, wie diese selbst, ihre Autoren und Rezipienten ihre soziale Umwelt gestalten. Obschon Roberts anhand der handschriftlichen Überlieferung aufzuzeigen versucht, wie Flodoards Werke rezipiert worden sind (u. a. S. 83–88, 95f.), lassen sich hierzu nur begrenzt Aussagen machen, da manches lediglich in einer Handschrift überliefert ist (S. 152, 197f.) bzw. die Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung und eine kritische Edition teils noch ausstehen (S. 149–157).
In Kapitel 1 (S. 29–74) wird Flodoards historiografisches Wirken vor dem Hintergrund seiner Teilhabe an den politischen Kontroversen im Westfrankenreich untersucht. Im Fokus steht dabei Flodoards Hauptwerk: seine »Historia ecclesiae Remensis«. Roberts wendet sich gegen die Annahme, es handle sich um eine »Lokalgeschichte«, eine nachträgliche Reflexion des »Reimser Schismas«, die lediglich der Selbstvergewisserung der Reimser Klerikergemeinschaft dienen und die Wunden heilen sollte, die das Schisma geschlagen hatte. Vielmehr sei die »Historia« in Reaktion auf eine konkrete politische Situation entstanden: Auf der Ingelheimer Synode von 948 wurde das Schisma unter dem Schirm des ostfränkischen Königs beendet.
Direkt im Anschluss begann Flodoard auf Anregung des Erzbischofs Robert von Trier, als Erzkaplan Lotharingiens einer der mächtigsten Bischöfe im Ostfrankenreich, mit seiner Reimser Kirchengeschichte. Roberts nimmt an, dass sich Flodoard der sich verändernden politischen Großwetterlage bewusst war, in der sich eine Hegemonie des Ost- über das Westfrankenreich abzuzeichnen begann und das Bistum Reims mehr und mehr in den ottonischen Einflussbereich zu gleiten drohte. Flodoards »Historia« sei der Versuch, die Reimser sedes in einer Welt ottonischer Ordnung und ihre Bischöfe im ostfränkischen Episkopat zu verorten, zu zeigen, dass der Reimser Metropolit auch in der neuen Zeit eine führende Rolle zu übernehmen bereit ist, und so im Umfeld des ottonischen Hofes um Patronage zu werben. In Kapitel 3 (S. 104–144) greift Roberts dieses Motiv wieder auf, indem er darlegt, dass Flodoards »Historia« zudem dazu gedient habe, Besitzansprüche auf Güter sowohl im Westfrankenreich als auch im ostfränkischen Lotharingien zu verteidigen, die im Streit mit regionalen Magnaten entfremdet zu werden drohten.
Kapitel 2 (S. 75–103) behandelt den Zusammenhang von Zeitgeschehen und Narrativ in Flodoards »Annales«, die der Kanoniker 922 in Reaktion auf die Erhebung Roberts von Neustrien zum Gegenkönig in Reims begonnen habe. Der im Vergleich mit Flodoards übrigen Werken nüchterne Stil der »Annales« wird als bewusste Entscheidung ihres Verfassers gewertet: zum einen, um durch diskrete Zurückhaltung ohne politische Positionierungen in dem weiter schwelenden Reimser Bischofsstreit keinen Anstoß zu erregen, zum anderen, um durch Lakonie die Gegenwart mit der goldenen Zeit des karolingischen Kaisertums zu kontrastieren. Roberts erkennt einen pessimistischen Zug in Flodoards Gegenwartswahrnehmung. Politische Katastrophen, die Auflösung des Westfrankenreiches als politische Einheit und persönliche Enttäuschungen hätten den Kanoniker besorgt und desillusioniert zurückgelassen. Diese düstere Einschätzung der Gegenwart ist auch Gegenstand des fünften Kapitels (S. 188–217), das sich mit der Rolle von Wundern im Werk Flodoards auseinandersetzt. Roberts assoziiert das Interesse Flodoards an Übernatürlichem mit den politischen Erschütterungen seiner Tage, sei man doch in Krisenzeiten empfänglicher für Wundererscheinungen. So habe die Reimser Klerikergemeinschaft in den »Visiones Flothildis«, die u. a. Reflexionen des ›Reimser Schismas‹ darstellten, Erklärungen für die politischen Veränderungen ihrer Tage gesucht.
In Kapitel 4 (S. 145–187) weist Roberts nach, dass Flodoard kein in Reims isoliert lebender Kanoniker, sondern Teil eines intellektuellen Netzwerkes war, das sich über weite Teile der einstigen karolingischen Welt erstreckte und dem neben Robert von Trier u. a. Brun von Köln, Theotolo von Tours und Rather von Verona angehörten. Anhand seiner Schrift »De triumphis Christi«, die in der Tradition spätantik-christlicher Dichtung steht, kann Roberts Flodoard in den Kontext intellektueller Strömungen sowohl im ostfränkischen Lotharingien als auch im Westfrankenreich stellen.
Roberts Ziel war es, Flodoards Gesamtwerk der Geschichts- und Literaturwissenschaft näherzubringen und den Reimser Kanoniker nicht nur als Historiografen, sondern auch als Akteur in einer Zeit des Wandels in Westeuropa zu beleuchten. Das ist ihm in hervorragender Weise gelungen. Seine Studie enthält eine Vielzahl von Impulsen, die zum Nachdenken anregen. Er kann zeigen, dass sich Flodoard mit seinem historiografischen Wirken in den Bahnen spätantik-christlicher und karolingischer Traditionen bewegte, aber mit seiner auktorialen Individualität zugleich einen neuen Weg beschritt, der ins 11. Jahrhundert hinführt, in dem Individualität die Geschichtsschreibung stärker zu prägen begann. Flodoard schrieb zu einer Zeit, in der die einstige karolingische Welt zwar politisch fragmentiert war, sich für ihn mit der Hegemonie des Ostfrankenreiches aber zugleich eine neue politische Ordnung ankündigte.
In seinen Schriften verarbeitete Flodoard diesen Prozess und half der Reimser Klerikergemeinschaft, »[to] negotiate a changing post-imperial present« (S. 219). In kultureller Hinsicht war die Einheit der karolingischen Welt noch weitgehend intakt, wie Roberts anhand der Beziehungen Flodoards zu verschiedenen über das einstige karolingische Großreich verstreuten Gelehrten deutlich macht. Dies lässt einen weiten intellektuell-geografischen Horizont im postkarolingischen 10. Jahrhundert sichtbar werden, der sich von dem des 9. Jahrhunderts nicht so sehr abhebt, wie lange unterstellt wurde. Roberts plädiert daher zu Recht für eine tiefere Wertschätzung der intellektuellen und kulturellen Verdienste im nachkarolingischen 10. Jahrhundert. Hierfür hat er mit seiner Studie über Flodoard von Reims einen gelungenen und wertvollen Beitrag geleistet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christian Stadermann, Rezension von/compte rendu de: Edward Roberts, Flodoard of Rheims and the Writing of History in the Tenth Century, Cambridge (Cambridge University Press) 2019, XIV–268 p. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series, 113), ISBN 978-1-316-51039-1, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75570