Das erschreckende Wiedererstarken des Antisemitismus in Europa gibt Anlass zu erneuter kritischer Reflexion über die »Wurzeln« des Phänomens beziehungsweise über seinen Ort in der »westlichen« Tradition1. Vor diesem Hintergrund widmet sich François Soyers willkommener Essay speziell der Frage, ob und in welchem Sinn von »mittelalterlichem Antisemitismus« gesprochen werden kann. Der Autor beantwortet diese Frage – so viel sei vorweggenommen – mit Ja. Dies erscheint wenig erstaunlich; denn von »a simplistic division between a ›medieval Anti-Judaism‹ supposedly distinguished by its religious nature and a modern antisemitism characterized by a racial focus« (S. 2) kann in der gegenwärtigen Mittelalterforschung ohnehin nicht (mehr) die Rede sein.

Kapitel 1 (»Historians, ›Medieval Antisemitism‹, and the Problem of Anachronism«) bietet einen Überblick zur Forschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als zum ersten Mal eine ausdrücklich als »Antisemiten-Liga« gekennzeichnete Vereinigung die politische Bühne betrat. Die dezidierte Verbindung des Antisemitismus mit Moderne (bzw. der Kritik an ihr) und Rassismus warf seitdem das Problem des Anachronismus auf, wenn Phänomene der Vormoderne mit diesem Begriff bezeichnet wurden. Erst recht nach 1945 und im Schatten der Shoah besteht das Risiko, den Sinn für die Abstufungen in den Äußerungsformen des Judenhasses zu verlieren (so Robert Chazan) und die Besonderheiten der mittelalterlichen Ansichten von Christen über Juden auszublenden (Anna Abulafia).

Begrenzt ist nach Soyers Ansicht deshalb auch der heuristische Wert des Begriffs »ethnic prejudice« – ungeachtet des Vorteils, dass er sowohl kulturelle als auch genealogische Bedeutungen trägt (S. 14). Ebenso wenig zielführend sei ein enger Fokus auf die spätmittelalterliche Begrifflichkeit von populus über gens (heute häufiger als »race« übersetzt) bis zu raza (in Südeuropa seit dem 15. Jahrhundert gelegentlich, aber keineswegs regelmäßig auf Juden angewandt, S. 15–17). Soyer geht es ausdrücklich nicht um die »Ursprünge« des Antisemitismus, sondern um Fragen der angemessenen Beschreibung. Er schlägt vor, von unterschiedlichen Antisemitismen (im Plural) zu sprechen. Dafür werden drei Hauptargumente geltend gemacht:

Kapitel 2 (»Judaism and the Jews in Medieval European Thought«) rekapituliert die mittelalterliche »Entdeckung« des Talmuds seit dem 12. Jahrhundert und die darauf aufbauende Vorstellung, die Juden stellten eine wirkliche Gefahr für Christen und das christliche Gemeinwesen dar. Der Talmud fordere von den Juden, so der Prediger Jerónimo de Santa Fé, anderen Völkern möglichst umfassend Schaden zuzufügen (S. 37). Das in ganz Europa verbreitete »Fortalitium Fidei« (1460) Alonsos de Espina verband das Bild vom »Talmudjuden« mit diversen Verschwörungstheorien gegen Juden (von Soyer in Kapitel 2 behandelt). Hier habe August Rohlings »Talmudjude‹ (1871) seine Ursprünge, und sogar Ernst Hiemers Machwerk »Der Giftpilz« (1939) knüpfe daran an (Abb. 1, S. 43). (Hiemers Zeichnung und Text hat übrigens große Ähnlichkeit mit einem Einblattdruck des 15. Jahrhunderts aus Mähren, auf dem ebenfalls ein jüdischer Vater seinem Sohn empfiehlt, die goyen [Nichtjuden] fleißig zu betrügen2.)

Kapitel 3 (»The Dehumanization and Demonization of Medieval Jews«) stellt zunächst Konstruktionen des »jüdischen Körpers« als Objekte von Ekel und Abscheu vor: die »jüdische« Nase (S. 47), die angebliche »Menstruation« jüdischer Männer und der foetor judaicus (S. 48 f.) sowie die Assoziation mit unreinen Tieren (»Judensau«, S. 51 und Abb. 2 mit irreführender Angabe der Herkunft3). Der rhetorischen Entmenschlichung der Juden steht ihre Dämonisierung gegenüber. Vorwürfe des Hostienfrevels und des Ritualmords weisen verschwörungstheoretische Elemente auf, die dann im 14. Jahrhundert immer »extremere« Formen annehmen (S. 64).

In Kapitel 4 (»Purity of Blood: An Iberian Exception?«) wendet sich Soyer den iberischen Verhältnissen zu, zu denen er auch eigene Forschungsbeiträge vorgelegt hat4. Die »altchristliche« Elite von Toledo hatte 1449 einen (schnell niedergeschlagenen) Aufstand angezettelt und als »Urteil und Statut« verkündet, Nachkommen von Juden dürften nicht mit öffentlichen Ämtern betraut werden, weil sie »infam, unfähig, ungeeignet und unwürdig« seien. Dies wurde mit den Privilegien der Stadt und mit »kanonischem und römischem Recht« begründet (S. 73; zu der hier vorliegenden Übertragung der Infamie von den Nachfahren überführter Häretiker auf die Nachfahren von Juden vgl. S. 82). Entscheidend für die Ausbildung eines als antisemitisch zu bezeichnenden Motivs war aber nicht allein der Begriff der »Blutreinheit« (limpieza de sangre), sondern insgesamt die Konstruktion essentialisierter Vorstellungen über jüdische Religion und jüdische Abstammung (etwa bei dem Chronisten Andres Bernáldes, S. 78f.). Die Antwort auf die in der Kapitelüberschrift aufgeworfene Frage, ob die Iberische Halbinsel in dieser Hinsicht eine Ausnahme dargestellt habe, bleibt Soyer mangels Vergleichs weitgehend schuldig (S. 83–85 weist stattdessen auf limpieza-Statuten des 16. Jahrhunderts hin).

In der »Conclusion« (S. 87–90) fasst Soyer die drei wesentlichen Ideenstränge zusammen, die dafür sprechen, von »mittelalterlichem Antisemitismus« zu sprechen: antijüdisches Verschwörungsdenken, die Konstruktion des »Talmudjuden« und die Ineinssetzung von jüdischer Religion und jüdischer Genealogie. Alle drei Stränge waren im Spätmittelalter europaweit verbreitet und wurden über polemische Schriften der Frühen Neuzeit in die Moderne tradiert.

Abgeschlossen wird das schmale Bändchen mit Hinweisen auf weiterführende Literatur, leider ausschließlich in englischer Sprache. Forschungsbeiträge in anderen Sprachen sind auch in den Fußnoten rar, und das Prinzip Germanica non leguntur wirkt sich stellenweise nachteilig auf den Ertrag aus5. Dessen ungeachtet bietet der Autor einen zeitgemäßen Diskussionsbeitrag zu einem – ganz im Sinne des Reihentitels – unerledigten Problem der europäischen Geschichte.

1 Vgl. auch Jonathan Adams, Cordelia Heß (Hg.), The Medieval Roots of Antisemitism. Continuities and Discontinuities from the Middle Ages to the Present Day, New York, London 2018; David Nirenberg, Anti-Judaism: The Western Tradition, New York u. a. 2013. In Kürze erscheint Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020.
3 Abbildung ibid., Nr. 11, S. 16. Das Kulturhaus Wittlich besitzt kein Exemplar dieses Einblattdrucks von ca. 1470.
4 Vgl. François J. F. Soyer, The Persecution of the Jews and Muslims of Portugal: King Manuel I and the End of Religious Tolerance (1496–7), Leiden 2007 (The Medieval Mediterranean, 69).
5 Zum antijüdischen Verschwörungsdenken vgl. etwa Johannes Heil, »Gottesfeinde« – »Menschenfeinde«: die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006 (Antisemitismus, 3); zur christlichen »Entdeckung« des Talmuds und den Folgen vgl. Alexander Patschovsky, Der »Talmudjude«. Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: Alfred Haverkamp, Franz-Josef Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992 (ZHF. Beiheft, 13), S. 13–27.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christoph Cluse, Rezension von/compte rendu de: François Soyer, Medieval Antisemitism?, Leeds (Arc Humanities Press) 2019, 96 p., 4 fig. (Past Imperfect), ISBN 978-1-64189-007-6, EUR 14,95., in: Francia-Recensio 2020/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75572