Kurz vor der zu erwartenden und jetzt einsetzenden Erinnerungswelle anlässlich der 150jährigen Wiederkehr des deutsch-französischen Kriegs, aber schon in der Vorausschau auf diese, widmet sich dieser mit vielen, zum Teil auch farbigen Abbildungen ausgestattete Tagungsband vor allem der mit diesem Konflikt verbundenen Erinnerungskultur. Damit beleuchtet er einen Aspekt der Geschichte dieses Kriegs, der bislang nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Der Band gliedert sich in vier Teile, die jeweils mit einer kurzen Einleitung versehen sind. Der erste Teil behandelt die regionale, der zweite die nationale Erinnerung an den Krieg, der dritte Teil stellt die Erinnerung in Selbstzeugnissen in den Mittelpunkt, während der vierte schließlich unter der Überschrift »Régards mémoriels croisés et réjeux du souvenir« Beiträge versammelt, die zum einen die Verflechtung der französischen Erinnerung mit derjenigen anderer Nationen betrachten, zum anderen die Verflechtung des Gedenkens an den Krieg von 1870/71 mit derjenigen des Ersten Weltkriegs. Abgeschlossen wird der Band durch ein Fazit von Pierre Allorant und den posthum veröffentlichten Tagungsbeitrag von François Roth. Nicht alle der 22 Aufsätze können hier besprochen werden.
Die fünf Beiträge zur lokalen und regionalen Erinnerungskultur illustrieren die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit des Gedenkens an den Krieg und das Konfliktpotenzial, das darin angelegt war. So kam es etwa, wie Danièle Pingué in ihrem Aufsatz zum Gedenken in Haute-Saône zeigt, zu hitzigen konfessionellen Streitigkeiten, zu lokalen Rivalitäten, wie sie Jean-Pierre Chaline in seinem Beitrag zu Kriegerdenkmälern in der Normandie am Beispiel von Le Havre und Rouen analysiert, oder schließlich zu scharfen Auseinandersetzungen über eine pazifistische oder militaristische Orientierung der Denkmalsskulpturen im Department Indre, die Lucien Lacour untersucht.
Der heroische Einsatz einer aus La Réunion stammenden Postangestellten, die während des Kriegs den französischen Generalstab in Tours von dem bereits von den Deutschen besetzten Pithivier aus telegraphisch über die militärischen Operationen in der Region informierte, konnte, wie Pierre-Éric Fageol darlegt, auf Réunion einen ganz spezifischen Nationalismus stärken, der den Wunsch nach Integration in die französische Nation mit einer Betonung der lokalen Eigenart vereinte.
Im zweiten Teil des Bandes arbeitet Sylvie Le Ray-Burimi heraus, wie die Kritik an der deutschen Belagerung von Städten, nicht nur die Einbeziehung von Zivilisten in die Kriegshandlungen verurteilte, sondern auch die kriegsbedingte Zerstörung von Kulturgütern als Kriegsverbrechen brandmarkte und so auch in diesem Aspekt die Haager Konvention von 1907 vorbereitete. Steht hier noch die unmittelbare Nachkriegszeit im Mittelpunkt der Ausführungen, so behandelt die Mehrheit der Beiträge dieses zweiten Teils eine deutlich weitere Zeitspanne, die von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart reicht.
Dies gilt etwa für den Beitrag von Mathilde Benoistel und Christophe Pommier, der die Musealisierung des 1870/71er Krieges im Musée de l’Armée bzw. in dessen Vorgängern, dem Musée d’Artillerie und dem Musée historique de l’Armée skizziert. Wie auch in dem Beitrag Walter Badiers zur Darstellung des Waffenganges in französischen Schulgeschichtsbüchern für die école primaire werden hier der Wandel und schließlich das Schwinden der Bedeutung der Schicksalsjahre von 1870/71 für die französische Selbstdefinition deutlich. Der Aufsatz von Christine Romero zur Rolle von 1870/71 in Reiseführern zeigt indes, dass bis in die Gegenwart hinein deutliche lokale Unterschiede auszumachen sind und der Krieg in einigen Regionen Frankreichs keineswegs als vergessener Krieg bezeichnet werden kann.
Welch vielfältige Formen und Funktionen die Kriegsdeutungen und das Kriegsgedenken annehmen konnten, demonstriert der dritte Teil des Bandes, der sich individuellen Akteuren zuwendet. Marie-Chantal Lhote-Birot analysiert hier beispielsweise die Kriegsmemoiren eines französischen Kriegsgefangenen, Pierre Allorant verfolgt das Schicksal verschiedener Mitglieder einer wohlhabenden bürgerlichen Familie während der Belagerung von Paris, Timothée Muller nimmt verschiedene Selbstzeugnisse aus der Zeit der Belagerung von Straßburg in den Blick. Éric Anceau schließlich untersucht die Bedeutung des Kriegs für das historiografische Werk Émile Olliviers, der getrieben von dem Wunsch, seine eigene politische Rolle bei Kriegsausbruch zu rechtfertigen, eine der umfassendsten und einflussreichsten historischen Darstellungen des Kriegs verfasste.
Nicht so sehr das Gedenken als vielmehr die außerfranzösische Wahrnehmung steht im Mittelpunkt zweier Beiträge des letzten Abschnitts. Wie stark das Interesse am deutsch-französischen Krieg nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika war, zeigt Daniel Emilio Rojas am Beispiel Kolumbiens. Hier entzündeten sich Kontroversen nicht nur zwischen Einwanderern deutscher oder französischer Herkunft, sondern auch zwischen verschiedenen politischen Lagern, die auf unterschiedlichsten politischen oder gesellschaftlichen Feldern wie etwa der Bildungspolitik entweder Deutschland oder Frankreich als Vorbild auch für die Entwicklungen im eigenen Land empfahlen.
In Dänemark hingegen prägten die noch so frischen Erinnerungen an den deutsch-dänischen Krieg die Deutung des deutsch-französischen Konflikts. Die Mehrzahl der Dänen identifizierte sich vorbehaltslos mit Frankreich, einige entschlossen sich sogar als Freiwillige die französische Armee zu unterstützen.
Es mag überraschen, dass es trotz der geografischen Öffnung keinerlei Beiträge über die deutsche Seite oder von deutschen Historikerinnen und Historikern gibt. Sprachliche Hürden haben offenbar außerdem dazu beigetragen, dass auch nur wenige Beiträge Forschungsergebnisse aus der deutschsprachigen Geschichtsschreibung aufgegriffen haben. Dass solche sprachlichen Hürden bestehen, zeigt letztlich ebenfalls, wie wenig sich eine deutsch-französische Zusammenarbeit zu diesem Konflikt etabliert hat. Dies ist zu bedauern und mag darin begründet liegen, dass der 1870er Krieg zu sehr in Vergessenheit geraten ist und ihm daher ein solides Fundament an aktuell laufenden Forschungen fehlt, auf dem eine enge deutsch-französische Kooperation aufbauen könnte. Es bleibt abzuwarten, ob sich das angesichts des verstärkten Interesses angesichts der 150jährigen Wiederkehr ändern wird. Und es ist zu hoffen, dass dieser Band mit seiner Ausrichtung auf erinnerungsgeschichtliche Aspekte wie auch mit seiner zumindest vorsichtigen geographischen Ausweitung des Blicks hier für weitere Forschungen Anregungen liefern wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christine G. Krüger, Rezension von/compte rendu de: Pierre Allorant, Walter Badier, Jean Garrigues (dir.), 1870, entre mémoires régionales et oubli national. Se souvenir de la guerre franco-prussienne, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2019, 297 p., 51 ill. (Histoire), ISBN 978-2-7535-77688, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.-21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75650