Franz Caspar Krieger war übergewichtig, litt unter Haarausfall, Gicht, Raucherhusten sowie jahrzehntelangen Verdauungsbeschwerden. Er hatte eine zerrüttete Ehe, diverse Affären und sechs (eheliche) Kinder, von denen nicht alle das Erwachsenenalter erreichten. Und der Landshuter Handwerksmeister Krieger trank für sein Leben gern Bier, in Mengen, die heutzutage als bedenklich gelten würden, jedoch im Bayern des 19. Jahrhunderts durchaus üblich waren. »Was ist das Leben ohne Bier?« (S. 56), unter diesem Ausruf könnte man Kriegers Lebensmotto recht pointiert zusammenfassen.
Robert Beck beschränkt sich in seiner mikrohistorischen Studie über den Posamentier-Meister jedoch nicht auf dessen beeindruckenden Bierkonsum. Franz Caspar Krieger (1795–1872) besticht aus historischer Perspektive nämlich durch anderes: durch ein 5500 Seiten umfassendes, zwischen 1821 und 1872 über 51 Jahre hinweg täglich geführtes Tagebuch. Es handelt sich um ein absolut ungewöhnliches Zeugnis eines einfachen Mannes, das einen seltenen Einblick in die Lebenswelt und Mentalität des damaligen katholischen Handwerker- und Bürgermilieus in Bayern erlaubt. Robert Becks Buch, die überarbeitete Version seiner habilitation à diriger des recherches, und sein eigener wissenschaftlicher Werdegang sind dabei auf enge Weise mit der französischen Sprache und Universität verwoben. Beck machte als Deutscher Karriere an der Université François-Rabelais in Tours, wo er über mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Themen forscht, daher auch die eher ungewöhnliche Wahl eines bayerischen Handwerkers für eine mikrohistorische Untersuchung in französischer Sprache.
Becks Arbeit ist historiografisch zunächst der französischen Mentalitätsgeschichte zuzuordnen, insbesondere ist sie inspiriert durch Vertreter der Annales-Schule wie Philippe Ariès, Alain Corbin oder Marc Bloch; auch Carlo Ginzburg fehlt hier selbstverständlich nicht. Der Großteil von Becks bibliographischen Fußnoten-Referenzen wurzelt in der französischen Wissenschaft, der deutsche – und im vorliegenden Fall weniger starke – Forschungsstand wird von Beck jedoch auch immer wieder eingeflochten. Ein Literatur- und Quellenverzeichnis fehlt jedoch überraschender Weise. Stattdessen gibt es einen kurzen Annex mit einigen abfotografierten Seiten aus Kriegers Tagebüchern, sowie ein paar Stichen, Landkarten und Stadtplänen, die versuchen, das Lebensumfeld und den Wirkungskreis Kriegers zu illustrieren.
Becks einleitende historiografische Einordnung fällt mit nur acht Seiten denkbar kurz aus, ebenso seine Synthese mit nur fünf Seiten. Umso mehr Raum gibt er der Analyse von Kriegers Lebensweg und Tagebuch. In 16 Kapiteln widmet sich der Historiker den grundsätzlichen und klassischen Fragen der mikrohistorischen Mentalitätsgeschichte, die er am Beispiel Kriegers sorgfältig abarbeitet. So befasst sich Beck mit Kriegers Wahrnehmung und Verständnis seines eigenen Körpers und seiner Gesundheit, seinem emotionalen und körperlichen Liebesleben, seiner Arbeit, Familie, Freizeit, Kriegers Gottesverständnis und seinem politischen Denken.
Dass ein Quellenbestand, wie Beck ihn mit Kriegers Tagebüchern vorfand, seine eigenen Reize und Faszinationen, jedoch auch Gefahren birgt, ist offenkundig. Becks Buch lebt im Wesentlichen von seiner sehr zugänglichen, kurzweiligen, humorvollen und einfühlsamen Erkundung des (Innen )Lebens Franz Caspar Kriegers. Dem Autor gelingt es in behänder Weise, seine Leserschaft in die Gedanken- und Gefühlswelt seines vor über 150 Jahren lebenden Protagonisten einzuführen und mitunter fast schon archaisch fremdartige Verhaltensweisen der damaligen Zeit zu »übersetzen«.
Dies betrifft insbesondere Kriegers funktionelles und emotionsarmes Verhältnis zu seiner eigenen Familie, die er – wie seinerzeit üblich – vor allem als eine Art wirtschaftlicher und sozialer Solidargemeinschaft betrachtete. Beeindruckend schildert Beck auch Kriegers intensive, fast schon hypochondrische Auseinandersetzung mit seinem eigenen Körper und dessen schleichendem Verfall. Becks Darstellungen sind nicht ohne eine gewisse Tragikomik, wenn er Kriegers Selbstbewertung seines Gesundheitszustands in »bierfähig« (also gesund) und »nicht-bierfähig« (krank, da Biertrink-Verbot) oder, gegen Ende seines Lebens, Kriegers Hin-und-Herpendeln zwischen zwei Ärzten mit den klangvollen Namen »Dr. Wein« und »Dr. Unsinn« beschreibt.
Becks minutiöse Detailarbeit verliert sich jedoch andererseits oft im Deskriptiven. Der Forschungsstand wird dabei vom Verfasser zwar immer wieder angeführt, jedoch eher illustrierend, wenig hinterfragend oder diskutierend. Zudem dient Beck der konkrete Fall Franz Caspar Kriegers selten zum Anlass, auf eine generellere und konzeptionellere, den Einzelfall übersteigende Ebene vorzudringen und den Handwerksmeister zur »Sonde« einer weitergefassten Studie des katholischen bayerischen Handwerksmilieus zu nehmen.
Somit trägt Becks Buch weitaus mehr den Charakter einer regionalhistorischen Darstellung als intendiert und steht zudem, durch die Sprachwahl des Verfassers bedingt, ein wenig zwischen den Stühlen zweier unterschiedlicher nationaler Historiografien. Von daher wäre eine Übersetzung ins Deutsche sicherlich wünschenswert. Vor allem im Großraum Landshut dürfte das Interesse an Becks Werk sicherlich am größten sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Philipp Glahé, Rezension von/compte rendu de: Robert Beck, Dieu, le roi et la bière. Un artisan bavarois 1821–1872, Tours (Presses universitaires François-Rabelais) 2019, 331 p., XIV p. de pl., nombr. ill. (Perspectives historiques), ISBN 978-2-86906-722-6, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.-21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75653