Schon seit einiger Zeit wird unter Neuzeithistorikerinnen und -historikern die Befürchtung geäußert, dass das lange, insbesondere das frühe und mittlere 19. Jahrhundert allmählich aus dem Fokus der Geschichts- und Sozialwissenschaften zu geraten scheine und in der Folge sowohl aus den aktuellen Forschungsfeldern und Lehrinhalten als auch aus den wissenschaftlichen Debatten und dem öffentlichen Bewusstsein immer mehr zu »verschwinden« drohe. Am Ende könne es gar ganz »untergehen«, gerade im Vergleich zu dem zeitlich näher gelegenen und wegen künftiger Zentenarien auch eingehender behandelten 20. Jahrhundert.
Aus diesem Grunde müsse das 19. Jahrhundert, so diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wieder verstärkt als eigenständige und maßgebliche Epoche der Moderne wahrgenommen und über innovative Zugänge in der Forschung neu erschlossen werden. Diese erlaubten es, das Säkulum aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und es dabei selbst ebenso wie die sich in ihm vollziehenden gewaltigen Revolutionen und herausragenden Entwicklungen in Politik, Technik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur oder die damit verbundenen Demokratisierungs-, Emanzipations-, Partizipations- und Reformbestrebungen neu zu entdecken und zu bewerten.
Auf diese Weise könne auch die fachliche Deutungshoheit der Historik gegen verfälschende geschichtspolitische Instrumentalisierungsversuche behauptet werden: Denn »die Welt habe sich nie so sehr verändert wie in jenem Jahrhundert«, damals wurden nicht nur »ein neuer Politikbegriff« und »neue Partizipationspraktiken«1, sondern auch die modernen westlichen Demokratien und die sie kennzeichnenden Rechts- und Verfassungsstaaten, Marktwirtschaften, Gesellschaftsordnungen und Lebensformen begründet.
Um nun dem in der Forschung auszumachenden Trend entgegenzuwirken und ihm mit frischen Impulsen zu begegnen, sind in den vergangenen Jahren thematisch einschlägige Tagungen veranstaltet worden und darüber hinaus mehrere Überblicksdarstellungen, Handbücher und Aufsatzsammlungen zu der für das Zeitalter zentralen Ära des Vormärz erschienen, die den genannten Forderungen Rechnung tragen: Zum einen die enorme Bedeutung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die heutige Welt zu betonen und zum anderen mit neu entwickelten Analysekategorien und Verfahrensweisen bestimmte Phänomene der Vormärzära deutlicher herauszuarbeiten und in einem anderen Licht erscheinen zu lassen2. Zu diesen forschungsnahen Publikationen gehört auch der hier zu besprechende, von den Aufklärungs- und Vormärzforscherinnen und -forschern Thomas Bremer, Wolfgang Fink, Françoise Knopper und Thomas Nicklas herausgegebene Sammelband »Vormärz und soziale Frage 1830–1848« von 2018.
Hervorgegangen aus einem vom Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) geförderten deutsch-französischen Forschungsprogramm über »L’héritage des Lumières à l’époque du Vormärz: Conflits, stratégies, réseaux et matérialité (1830–1848)« und basierend auf einer ersten Tagung des Programms, die im November 2016 an der Universität Reims stattfand3, beschäftigen sich die Beiträge des interdisziplinär angelegten Bands mit neuen Wegen in der Vormärzforschung und präsentieren im vorliegenden Fall »verschiedene deutsch-französische Lesarten zur Behandlung der Sozialen Frage in der Zeit des Vormärz« (Klappentext). Zu diesem Zweck haben die Autorinnen und Autoren der 13 Studien, von denen fünf in deutscher und acht in französischer Sprache verfasst sind, laut den Herausgebern und der Herausgeberin in der Einleitung »einen eigenen Zugang« gewählt, um so »der Komplexität der historischen Gemengelage gerecht zu werden« und sich mit Blick auf das Forschungsprojekt den diversen sozialen Problemen des Vormärz aus der Perspektive »des Aufklärungsdenkens« eingehend zu widmen und jene unter Berücksichtigung der Frage nach dem Erbe und Fortwirken aufklärerischer Ideale genau auszuleuchten (S. 5–10, hier S. 9).
Dabei setzen sich die Beiträgerinnen und Beiträger aus unterschiedlichen Disziplinen – u. a. aus der Romanistik, Germanistik, Philosophie und Geschichte – in einem ersten Schwerpunkt des Bandes zunächst mit einzelnen »emblematische[n] Texte[n] des sozialen Protests« der Vormärzzeit, in denen der politisch-soziale Umbruch bis heute nachklingt und gegenwärtig bleibt, sowie mit deren geschichtlichem Hintergrund, »Genese und frühe[r] Rezeption« auseinander, wie dies François Genton und Bernd Füllner mit den berühmten Gedichten von Heinrich Heine (1797–1856) über »Die schlesischen Weber« von 1844 und von Pierre Dupont (1821–1870) über »Le chant des ouvriers« von 1846 tun (S. 11–33, 35–63, hier S. 35). Sie tauchen dann – wie Laure Gallouët, Camille Jenn und Philipp Hubmann – in das Œuvre »zeitgenössischer Autoren unterschiedlichen Ranges« (S. 9) ein und untersuchen, wie die soziale Frage Eingang in die Werke von Franz Gräffer (1785–1852), Georg Büchner (1813–1837) und Bettina von Arnim (1785–1859) fand, darin verarbeitet wurde und zum Teil bereits ein handfestes soziales Engagement erkennen ließ: Darunter zum Beispiel in der Stadtbeschreibung »Kleine Wiener Memoiren« des Schriftstellers und Buchhändlers Gräffer von 1845 (S. 65–83), in den zwischen 1834 und 1837 verfassten Arbeiten des »héritier critique des Lumières« Büchner, etwa der Zeitung »Der hessische Landbote«, der Erzählung »Lenz« und den Dramen »Dantons Tod« und »Woyzeck« (S. 85–103, hier S. 85) sowie in der zeitgenössisch ungeheuer bekannten Abhandlung »Dies Buch gehört dem König« der preußischen Freifrau, romantischen Autorin und Anwältin »der Armen und Unglücklichen« von Arnim von 18434, das die damals verbreitete »littérature engagée« um eine wichtige »nouvelle facette« bereicherte (S. 105–138, hier S. 137).
Schließlich gehört hierher auch die Studie über den deutschen sozialen Roman im Vormärz, in der Wolfgang Fink anhand der Werke von Autoren wie Ernst Willkomm, Georg Weerth, Ehrenreich Eichholz und Hermann Theodor Oelckers verschiedene literarische Versuche, »die neue Wirklichkeit«, »la modernité industrielle« abzubilden, erörtert und eine Entwicklung des Genres konstatiert, die im Vergleich zu ihren Vorgängern zwar durch »des conceptions et des stratégies esthétiques radicalement différentes« besticht, gleichzeitig aber auch mehrere Brüche und Kontinuitäten aufweist und zwischen neuen Konzepten und alten Vorschriften schwankt (S. 139–164, hier S. 164).
Nachdem im ersten überwiegend literaturhistorischen Schwerpunkt des Bands die Bedeutung der sozialen Frage im Gesamtwerk ausgesuchter Autoren dargelegt und die gattungsspezifische Entwicklung des sozialen Romans aufgezeigt werden konnte, wenden sich die fünf Fallstudien im zweiten, eher politik- und sozialgeschichtlichen Teil bestimmten philosophisch-politischen Strömungen und Bewegungen des Vormärz in Frankreich und Deutschland und deren Umgang mit der sozialen Frage zu. Dabei stützen die Beiträgerinnen und Beiträger ihre Untersuchungen auf zentrale ideengeschichtliche, weltanschauliche, politisch-analytische und soziologische Schriften bedeutender deutscher Literaten, Politiker, Juristen und Staatswissenschaftler.
Diese hatten entweder das westliche Nachbarland bereist und ihre »im Ausland gemachten Erfahrungen für ein heimatliches deutschsprachiges Publikum« in der Form der Reisebeschreibung festgehalten (S. 167); hatten als freiheitsliebende Intellektuelle für längere Zeit in der pulsierenden Hauptstadt Paris gelebt und dort »die zeitgenössischen französischen Soziallehren […] in der Absicht« studiert, »sie in Deutschland zu verbreiten« (S. 256); oder sie hatten sich in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes politisch betätigt, parallel dazu die Theorien westlicher Denker rezipiert, diese mit den eigenen Vorstellungen verwoben und eine oppositionelle staats- und gesellschaftspolitische Konzeption entworfen, die sie für eine Neuordnung der deutschen Verhältnisse benötigten.
Bei den hier vorgestellten Frankreich- und Paris-Reisenden, die zu den Vertretern »eines doppelseitigen Kulturtransfers« zählten (S. 171), handelt es sich um die Autoren des Jungen Deutschland Karl Gutzkow (1811–1878) und Theodor Mundt (1808–1861), deren Reiseberichte als Ausgangspunkt der Untersuchungen dienen. So zieht Thomas Bremer in seinem Beitrag Gutzkows »Briefe aus Paris« von 1842 als Beispiel für die Rezeption der Schriften französischer frühsozialistischer Theoretiker heran und kann als Ergebnis die überragende Rolle festhalten, die »solche Positionen – vor allem die des Saint-Simonismus und des Fourierismus – auch in der deutschen Diskussion des Vormärz […] als Versuch einer Antwort auf die […] ›soziale Frage‹« spielten. Gleichzeitig kann die angesprochene Transferleistung verdeutlicht werden, wie Gutzkow »die Möglichkeit der literarischen Reisebeschreibung« nutzte, um »die Diskussionen des Auslands in und für Deutschland zur Kenntnis zu bringen« (S. 165–181, hier S. 168, 180f.).
Dagegen konzentrieren sich Françoise Knopper und Thomas Nicklas in ihren Aufsätzen auf Mundts Werke »Spaziergänge und Weltfahrten« von 1838–1840 und »Völkerschau auf Reisen« von 1840, in denen dieser seine Reisen durch Frankreich und seinen Aufenthalt im Großherzogtum Baden in den Jahren 1837/1838 schildert. Während Knopper Mundts Zielen und Intentionen nachspürt und dessen Auseinandersetzung mit der sozial engagierten Literatur einer George Sand, als »adepte de l’idéologie saint-simonienne« mit den Ideen des Frühsozialismus sowie als zeitgenössischer Beobachter mit den Lebensverhältnissen von Arbeitern und Armen in den Blick nimmt (S. 183–206, hier S. 184f.), geht Nicklas auf Mundts Begegnungen mit Karl von Rotteck, »le vieux ténor du libéralisme en Allemagne du Sud«, ein.
Dabei interessieren ihn die Ausführungen zum frühen Konstitutionalismus und Liberalismus, die Sicht des preußischen Intellektuellen auf den badischen Akteur und Theoretiker Rotteck und die Einschätzung der Stellung, die jener in der Phase des Übergangs »du joséphisme tardif au libéralisme primitif«, bei der Ausarbeitung eines »programme libéral cohérent«, der Festlegung des Vorrangs der Freiheit der Deutschen vor ihrer Einheit und bei der Schaffung des modernen Staates einnahm (S. 207–221, hier S. 208, 212, 220f.).
Daran anschließend widmet sich der Beitrag von Fritz Taubert den »gesellschaftspolitischen Konzeptionen des Liberalismus und seine[r] Wertung der sozialen Frage« (S. 9f.), wie sie in »la bible du libéralisme«, dem »Staats-Lexikon« von Karl von Rotteck (1775–1840) und Karl Theodor Welcker (1790–1869) und konkret in den drei Auflagen der »Enzyclopädie« von 1834–1843, 1845–1848 und 1856–1866 zum Ausdruck kommen. Für diesen Zweck vergleicht Taubert die Artikel einzelner Autoren, die zwischen 1834 und 1859 erschienen sind, sich mit den politischen und sozioökonomischen Zuständen im Vormärz beschäftigen und eine Vision für die Lösung der anfallenden Probleme bieten.
Dazu zählen beispielsweise die Artikel »Armenwesen, Armenpflege« von Rotteck, »Arbeit« von Friedrich List, »Arbeiterunruhen« von Heinrich Bernhard Oppenheim, »Communismus und Socialismus seit 1848« von Wilhelm Schulz, »Menschenrechte« von Gustav (von) Struve sowie »Socialismus und sociale Frage« von Karl Friedrich Biedermann5 (S. 223–244, hier S. 223). Den Abschluss des zweiten Schwerpunktes in dem Band bildet der Beitrag über »Die soziale Frage bei Lorenz von Stein« (1815–1890), in dem Norbert Waszek den in Frankreich in »seine[r] Wirkung […] beschränkt geblieben[en]« Wissenschaftler bekannter machen will und seine Bedeutung als einer »der Gründerväter der Konzeption des ›sozialen Rechtsstaates‹« darzustellen beabsichtigt. Dies tut der Verfasser, indem er biografische Informationen zur Lebensgeschichte, darunter die Frankreichbezüge, einbringt, sodann für die Analyse, wie die soziale Frage in Steins Lehre »eine entscheidende systematische Position« gewinnen konnte, die Hauptwerke »Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs« von 1842 und die »Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage« von 1850 heranzieht sowie zu guter Letzt das Verhältnis von Steins zu Hegel erläutert.
Den riesigen Erfolg der beiden Werke führt Waszek vor allem darauf zurück, dass mit der ideenhistorischen Studie die »Soziallehren, die in Deutschland noch weitgehend unbekannt waren, dem Publikum« vorgestellt und so ein »Beitrag zum deutsch-französischen Kulturtransfer« geleistet werden konnte und dass es mit der sozialen Studie gelang, »den Begriff der Gesellschaft« und »seinen Inhalt zu entwickeln« und damit zur Etablierung der Soziologie als Wissenschaft beizutragen (S. 245–279, hier S. 245f., 250, 258f.).
Abgerundet wird der Sammelband schließlich durch einen dritten Schwerpunkt, der »sozialen Frage von unten« (S. 10), die in den Beiträgen von Ludolf Pelizaeus sowie von Amélie Richeux und Ali Zein behandelt wird. Dabei befasst sich die Studie von Pelizaeus mit der Entwicklung der sozialen Lage im deutschen Südwesten im Übergang von der Restaurations- zur Vormärzepoche und mit den Antworten von Karl Follen (1796–1840) und Wilhelm Schulz (1797–1860), die beide jeweils in ihren Werken von 1819, dem »Odenwälder Bauernlied« und dem »Frag- und Antwortbüchlein« entworfen hatten und die sie als »Wegbereiter eines revolutionären Weges« ausweisen (S. 281–302, hier S. 292).
Zum anderen werden von Richeux und Zein »gesellschaftliche Konflikte in […] ausgesuchten Fällen der Kriminalgeschichte« (S. 10) besprochen, die sich in den »›Causes célèbres‹ des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich« wiederfinden und in dem Aufsatz anhand von Kriminalfallerzählungen aus den Sammlungen von Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833) von 1808/1828, Armand Fouquier (1817–?) von 1858 bis 1874 und der Adaptation »Der neue Pitaval« aus den Jahren 1840 bis 1890 exemplarisch präsentiert werden (S. 303–329).
Selbst wenn dieser Band einige in ihrer Themenwahl, Untersuchungsanlage und Vorgehensweise zum Teil recht weit auseinanderliegende Studien unter einem konzeptionellen Dach zusammenführt und dies durchaus Fragen nach der inneren Konsistenz aufwerfen kann, so kann man dennoch – und zwar nicht nur weil dieser Umstand auch bei anderen Aufsatzsammlungen eine Rolle spielt und Anlass zu Kritik geben kann – als Fazit festhalten: Dieser unglaublich interessante, ertrag- und erkenntnisreiche Sammelband von Thomas Bremer, Wolfgang Fink, Françoise Knopper und Thomas Nicklas zur sozialen Frage im Vormärz kann jedem Vormärz- und Aufklärungsforscher aus Deutschland und Frankreich wirklich nur dringend und zugleich guten Gewissens zur Lektüre empfohlen werden, und das aus gleich mehreren Gründen:
Erstens muss hervorgehoben werden, dass der Band den eingangs geschilderten neuesten wissenschaftlichen Ansprüchen und Anforderungen vollumfänglich nachkommt und genügt. Denn seine Stärke liegt zweitens gerade in der Zusammenstellung der uneingeschränkt lesenswerten und aussagekräftigen Beiträge, die ein außerordentlich vielfältiges Bild der sich im Vormärz akut stellenden sozialen Frage und des nicht mehr zu leugnenden massenhaften Elends breiter Bevölkerungsschichten vermitteln, aber auch der sehr unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten der Wahrnehmung, Verarbeitung, des Umgangs und der Lösung dieser Problematik von Seiten der Politik, Wissenschaft, Literatur und Soziallehre aufzeigen.
Nicht zu vergessen, zeichnet er sich drittens durch die Bündelung innovativer Forschungsansätze und zahlreicher vergleichender Perspektiven aus, die in den einzelnen Studien verfolgt, dort auf mehreren Ebenen angewandt und unter eine übergeordnete Fragestellung und verbindende Forschungslinie gestellt werden. Alles in allem kann man deshalb dem Band nur eine breite Rezeption in der Wissenschaftsgemeinde ebenso wie in der weiteren Öffentlichkeit dies- und jenseits des Rheins wünschen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Birgit Bublies-Godau, Rezension von/compte rendu de: Thomas Bremer, Wolfgang Fink, Françoise Knopper, Thomas Nicklas (dir.), La question sociale du »Vormärz«/Vormärz und soziale Frage. 1830–1848. Perspectives comparées/Vergleichende Perspektiven, Reims (Éditions et presses universitaires de Reims) 2018, 331 p., 5 ill., ISBN 978-2-37496-071-5, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75656