Was genau ist eine transnationale Geschichte einer Nation, oder vielleicht eher eines Nationalstaats, wie er in der Regel der Gegenstand der Nationalgeschichtsschreibung ist? Die Eingangsfrage kann noch allgemeiner gestellt werden: Wie kann man historisch einen Untersuchungsgegenstand fassen, dessen Definitionskriterien man mit dem methodischen Ansatz selbst gerade in Frage stellt? Wie also könnte eine transkommunale Geschichte des Pariser Vororts Bobigny aussehen, eine transsoziale Geschichte der Arbeiterschaft oder eine Transgendergeschichte der Frau?
Vermutlich lautet die Antwort, dass man einerseits diese Kategorien nicht als gegeben ansehen, sondern dauernd kritisch in ihrem konstruktiven Charakter hinterfragen müsse, und andererseits die Binnenperspektive laufend sprengen soll zugunsten von Transfers, Vernetzungen, Austauschbeziehungen, Zirkulationen, kreuzweisen Beobachtungen vorzugsweise jenseits der offiziellen Vertreter einer Institution. Eine transkommunale Geschichte von Bobigny wäre dann nicht mehr nur die Entwicklung von einer gallischen Siedlung bis zu einer kommunistischen Arbeitervorstadt. Sie müsste die vielen Beziehungen mitberücksichtigen, die darüber hinausweisen: zu den Nachbargemeinden, nationalen Behörden und internationalen Städtepartnern, zwischen Gemeindebürgern und Einwanderinnen, von Gemeindebürgern im Kolonialdienst und so weiter. Schon auf Gemeindeebene ist eine Transgeschichte in ihrer unüberschaubaren Zahl möglicher Themen weniger eine herkulische Aufgabe als eine Verpflichtung, die Kriterien für die Auswahl der behandelten Themen sehr transparent zu begründen.
Diese Aufgabe stellt sich bei jeder historiografischen Fragestellung. Sie definiert einen Zugriff im unendlichen Material der Überlieferung. Sie kann dabei mehr oder weniger Quellen verarbeiten, zu mehr oder weniger repräsentativen Resultaten kommen; sie kann aber nie eine »histoire totale« liefern, die keine Grenzen und Lücken hat. Es geht in der Geschichtsschreibung also nicht darum, ohne einen heuristischen »Tunnelblick« zu arbeiten oder erlöst von einem »Container«, wie der methodische Nationalismus oft umschrieben wird. Die einzige Alternative zu den Beschränkungen des einen Containers sind Beschränkungen eines anderen Containers. Was Methodendiskussion leisten kann, ist nicht die Überwindung dieser Binsenwahrheit, die sich durch die Zwänge von historiografischer Forschung und Darstellung ergibt, sondern das Bewusstsein, welche Verengungen, Begrenzungen und Einschränkungen jeder jeweilige Container mit sich bringt.
Wenn der historiografische Leidensdruck im erwähnten Container »Gemeinde« weniger ausgeprägt ist als in demjenigen der Nation, so liegt das wohl weniger an der historiografischen Dominanz des methodologischen Nationalismus als an der historischen Wirkmacht der politischen Kategorie »Nation« und an ihrer Sperrigkeit in einer Zeit, die sich aus dem gegebenen Anlass der Globalisierung vor allem für weltumspannende Zusammenhänge interessiert.
Für eine mehr oder weniger polemisch formulierte Frontstellung haben transnationale Ansätze gute und bekannte Gründe: Nationalgeschichten sind oft teleologisch, pflegen die exzeptionalistische Nabelschau (»Sonderweg«, »Sonderfall«), fokussieren auf Ereignisgeschichte und große alte Männer, wollen Identität stiften oder gar politisch dem Nationalismus dienen. Dagegen hat sich bereits die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gewandt, die Geschichte von Regionen, der alltags- oder kulturgeschichtliche Blick von unten, die Gendergeschichte. Sie alle formulieren andere und legitime historische Untersuchungsgegenstände gegen – aber letztlich auch neben – der Nation und dem Nationalstaat, die ebenfalls legitime historiografische Themen sind.
Eine »transnationale Geschichte der Schweiz« hingegen behält zumindest im Titel den Untersuchungsgegenstand bei, den sie mit der Nationalgeschichte gemeinsam hat. Sie will einerseits das über die Schweiz als Nation aussagen, was sich nicht auf den nationalen Container Schweiz reduzieren lässt, und andererseits die Nation Schweiz besser verstehen, indem sie – wie die Herausgeber ankündigen – in einem Pluralismus von Methoden den Blick lenken auf »grenzüberschreitende Verbindungen und Transfers […] sowohl auf dem infra- als auch auf dem suprastaatlichen Niveau« (S. 9).
Man würde entsprechend erwarten, dass der nationalgeschichtliche Container dort infrage gestellt oder gesprengt würde, wo seine Engführungen offensichtlich sind: im Politischen, im Staatlichen. Komischerweise umgehen die Beiträge des Bands aber genau diese Themen zugunsten von anderen, die von jeher auch in helvetischen Nationalgeschichten mit weitem Blick behandelt wurden. Oder hat je jemand behauptet, die existentiell auf Außenhandel angewiesene Volkswirtschaft lasse sich auf ihren Binnenmarkt reduzieren?
Die Tätigkeit von (hier Zürcher) Textilunternehmen in Übersee ist ein wichtiges, aber nicht revolutionäres Thema, obwohl ein Forscher (hier Roman Wild) früher New York nicht als »transnationalen Hotspot« bezeichnet hätte. Der Bankenplatz Tessin (Pietro Nosetti) und der Börsenplatz Genf (Jérémy Ducros) zeigen die Verwebung kantonaler, nationaler und internationaler Handelsnetze, wie sie typisch für die Schweiz sind; und unbestritten. Dasselbe gilt auch für den Bildungsbereich, und nicht nur für den Kanton Freiburg (Alexandre Fontaine): Es ist ja geradezu auffällig, dass der Föderalismus keine vereinheitlichten Schulpläne oder Lehrbücher zuließ noch zulässt – nicht einmal im nationalstaatsbildenden Fach Geschichte. Auch als wirtschaftlicher Akteur trat der Nationalstaat bezeichnenderweise im internationalen Vergleich erst sehr spät auf den Plan, etwa über Kredite, wie Marcel Brengard am Beispiel von Brown, Boveri & Cie. (BBC) und Nigeria zeigt. Gewichtig ist stattdessen die Rolle von nationalen Verbänden; aber niemand hat den Dachverband der Schweizer Unternehmen (heute Économiesuisse) allein in seinen nationalen Bezügen erklärt, ebenso wenig die Gewerkschaftsbewegung und ihre Streikgeschichte (Christian Koller), deren Genese ohne deutsche und französische Modelle und Vorkämpfer nicht zu verstehen ist. Dazu gehört auch die Bildung der verschiedenen sozialistischen »Internationalen«; auch auf nichtstaatlicher Ebene wurde früher vieles mit diesem Begriff erfasst, das heute als »transnational« neu entdeckt wird.
Hat die Nationalgeschichte Auswanderungen und Rückwanderungen vernachlässigt, gar im vormodernen Exportschlager Solddienst? Gehören die Schweizer Soldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg (Alexandra Binnenkade) oder die Schweizer Kolonie in Argentinien (Isabelle Lucas) nicht zu diesen längst etablierten Forschungsthemen? Auch eine rein national argumentierende Rezeptionsgeschichte hat es nie gegeben: Insofern rennen die Artikel über den Maoismus (Cyril Cordoba) oder Benjamin Constants Deutung Gaetano Filangieris und ihre Wirkung im Risorgimento (Fernanda Gallo) methodisch offene Türen ein.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Nationalgeschichte in diesem Band einerseits zum Popanz aufgebaut wird und die vermeintliche Bastion andererseits mit dem falschen Werkzeug geschliffen werden soll. Andreas Würgler will die transnationalen Ansätze sogar für die Vormoderne gegen Pierre-Yves Saunier und andere mobilisieren, die ihre Sprengkraft mit guten Gründen auf das Zeitalter des Nationalstaats begrenzen. Gewiss hat Simon Teuscher Recht, dass die nationalgeschichtliche Suche nach Anfängen und Wurzeln gerade in der Mediävistik viel anachronistischen Schaden angerichtet hat; die »Bundesgründung von 1291« ist das berühmteste schweizergeschichtliche Beispiel. Doch Würglers transnationale Geschichte der Printmedien funktioniert nur, wenn er die vormodernen Bezüge nachträglich nationalisiert. Basels Vorreiterrolle im Buchdruck erklärt sich nicht dadurch, dass »Deutsche« in die »Schweiz« eingewandert sind, sondern durch den zusammenhängenden oberrheinischen Kulturraum; die Buchdrucker in der protestantischen Reichsstadt Zürich waren ihren Glaubensbrüdern in den Reichsstädten Konstanz und Augsburg ungleich näher als den Innerschweizer Papisten, die nicht einmal die Bibel lesen durften; und die zugewandten Orte Genf und Neuenburg mit ihrer enormen Bedeutung für die calvinistische beziehungsweise aufklärerische république des lettres waren nicht »schweizerisch« oder wenn, dann ebenso sehr wie französisch und savoyisch beziehungsweise preußisch. Würgler hat Recht, dass man schon lange vor 1789 von »Nation« sprechen konnte. Aber sie war noch kein »Letztwert und oberster Legitimitätsquell« (Dieter Langewiesche) und weit hinter Konfession und Kanton ein nur zweitrangiger Identitätsfaktor, der es nicht nötig hat, transnationalisiert zu werden.
Es mag beckmesserisch sein, den einzelnen Aufsätzen, die in ihrem Bereich durchaus ertragreich sein können, vorzurechnen, dass sie sich oft in bewährten Forschungstraditionen bewegen. Doch dazu lädt der ambitiöse Titel »Transnationale Geschichte der Schweiz« ein, der ein neues und durchgehendes Narrativ verspricht. Vor diesem Hintergrund hätte der Sammelband weniger provokativ von »Transnationalen Geschichten« – im Plural – reden können; oder noch präziser von transnationalen An- und Aufsätzen mit Bezügen zu Schweizer Akteuren. Über solche lässt sich vieles erforschen und aussagen.
Eine transnationale Geschichte der Schweiz als neues Paradigma wird in diesem Band jedoch nicht im Ansatz spürbar; wohl aber die Notwendigkeit, die Nationalgeschichte immer wieder um die Erkenntnisse zu erweitern, zu bereichern und zu korrigieren, die der Vielfalt von – auch – transnationalen Forschungsansätzen zu verdanken sind. Jakob Tanners Aufsatz »Thesen und Überlegungen« nennt dafür einige – erneut – wirtschaftshistorische Beispiele. Vorerst noch ist der methodische Nationalismus, sofern man sich seiner bewusst ist, weder eine »Falle« noch sind transnationale Ansätze der Königsweg aus ihr heraus. Auf eine transnationale Geschichte der Schweiz – im Singular – bleibt man weiterhin neugierig gespannt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Maissen, Rezension von/compte rendu de: Nathalie Büsser, Thomas David, Pierre Eichenberger u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte der Schweiz/Histoire transnationale de la Suisse, Zürich (Chronos) 2020, 288 S., 10 s/w Abb., 12 Graf./Tab. (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte/Annuaire suisse d’histoire économique et sociale, 34), ISBN 978-3-0340-1522-6, CHF 38,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75658