Mit zynischem Unterton betitelt der französische Zeithistoriker und Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus Johann Chapoutot sein neustes Werk über das Management im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland mit »Libres d’obéir«. Direkt übersetzt bedeutet diese Wortfusion wohl »frei zu gehorchen«, sinngemäß geht dieser Titel jedoch tiefer. In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« neigte Jürg Altwegg in einem Artikel, der sich eigentlich um Frankreichs Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie drehte, dazu, Chapoutots Titel mit »Gehorsam macht frei« zu übersetzen, also als direkte Assoziation mit den Worten »Arbeit macht frei«, die u. a. an den Toren des Konzentrationslagers Auschwitz prangten1. Und fern liegt es nicht, zu glauben, dass der Autor genau diese Assoziation auch nutzen wollte.
Mit einem dauerhaft polemischen, aber dennoch pointierten Ton schafft es Chapoutot, die intellektuellen Kontinuitäten anhand der biografischen Erzählung des Lebens und Wirkens des Juristen und späteren Managementgurus Reinhard Höhn wiederzugeben und zugleich die Verknüpfung mit den mittlerweile unbestrittenen Kontinuitäten des »Dritten Reichs« herzustellen. Chapoutot klärt dabei die Fragen, warum und in welchem Maße die Nationalsozialisten über neue Arbeitskontexte nachgedacht haben und wie diese sich auf Arbeit, Individuum, öffentlichen Dienst und letztlichen den Staat auswirkten. Diese Veränderungen sieht er in direktem Zusammenhang mit dem Fortbestehen nationalsozialistischer Ideen im Management nach 1945.
Das essayistische Werk Chapoutots reiht sich ein in die vielen Studien über Kontinuitäten und Brüche zwischen dem »Dritten Reich« und der Bundesrepublik Deutschland. Der Autor legt den Fokus in dieser Arbeit auf den intellektuellen bzw. geistigen Fortbestand des Faschismus in der Person Reinhard Höhn, der während des »Dritten Reichs« seine erste Karriereleiter emporstieg und in der Forschung bisweilen als »archétype de l’intellectuel technocrate au service du IIIe Reich« gilt2.
Dennoch scheint das größere Interesse an einer tiefgreifenden Aufarbeitung der Person und des Wirkens Reinhard Höhns in der Wissenschaft erst in jüngster Vergangenheit aufgekommen zu sein. Mit der im deutschsprachigen Wissenschaftsraum erschienen Höhn-Biografie von Alexander Müller aus dem Herbst 2019, wurde ein erster neutraler, gut recherchierter Grundstein zum Leben und Wirken des ersten deutschen Managementgurus gelegt. Vor diesem umfassenden Standardwerk erschienen lediglich Aufsätze, die sich mit verschiedenen Aspekten von Höhns Leben – Ethik, Recht, Elite, Management – beschäftigten.
Chapoutot schließt mit seiner Abhandlung somit eine bisweilen vernachlässigte Forschungslücke. Dem Lesenden wird sehr schnell vor Augen geführt, dass dieses Werk in keiner Hinsicht die Absicht verfolgt, gänzlich neutral über das immaterielle Erbe des »Dritten Reichs« zu berichten. Der Autor baut seine Argumentation auf den Meilensteinen Höhns auf, die er chronologisch abhandelt. Zudem richtet er seinen Blick zu gleichen Teilen auf das Wirken Höhns während des Nationalsozialismus und sein nachhaltiges Schaffen in der Bundesrepublik, das er an den meisten Stellen mit sarkastischem Unterton kommentiert. In acht kurzen Kapiteln argumentiert er, welche intellektuellen Überschneidungen sich zwischen Höhns Schriften und Taten im »Dritten Reich« und seinem Wirken als deutscher Managementguru aufzeigen lassen.
In den ersten vier Kapiteln3 geht es um die Idee des Staates, die Höhn, der eigentlich Anwalt für öffentliches Recht war, in den 1930er-Jahren entwickelte. Chapoutot zieht dabei immer wieder den Vergleich zwischen der Idee Höhns und dem Aufbau des nationalsozialistischen Staates. Gerade die Theorien rund um die »Volksgemeinschaft«, die Gemeinschaft im Allgemeinen und die Bindung der »Volksgenossen« an die Gemeinschaft in Verbindung mit dem Leistungskult durchdringt Chapoutot in Bezug auf Höhns Ideen neu.
In den folgenden Kapiteln4 widmet sich der Autor den »guten Lehren der ehemaligen SS«5, die ihre Kontinuität in der Bundesrepublik fanden. Zwar sind die Kapitel mit interessanten Erkenntnissen durchzogen, jedoch übersieht der Autor an dieser Stelle die Bedeutung der Tätigkeiten Höhns in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Im Hinblick auf das vom Autor gesetzte Ziel, den »Managementgedanken« im NS und Nachkriegsdeutschland zu vergleichen sowie das »Moderne« im Nationalsozialismus und dessen Fortbestehen während des nicht unumstrittenen »Wirtschaftswunders« zu erkunden, das Anfang der 1960er-Jahre sein Ende fand, fehlen die Brüche in der Biografie. Einige berufliche Stufen, wie u. a. seinen Werdegang vom Heilpraktiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum bekanntesten Vertreter der Harzburger Akademie, zeigen die Wandlungsfähigkeit Höhns, die Chapoutot nicht in zufriedenstellendem Maße berücksichtigt.
Insgesamt zeichnet Chapoutot jedoch eines der sehr wenigen Bilder der Persönlichkeit Reinhard Höhns, das im Hinblick auf die intellektuelle Kontinuität des NS seinesgleichen sucht. Studien über Wirkung und Präsenz Höhns und seiner Kaderschmiede sind rar, obwohl er in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte eine nicht unerhebliche Rolle spielte und die überwiegende Mehrheit der deutschen Großunternehmen ihre Führungsriege in die Höhn’sche Managementschule schickte, was Chapoutot auch präzise zu kommentieren weiß:
»C’est à la fois le gratin et les soutiers du ›miracle économique allemand‹ qui se retrouvent dans les séminaires de Reinhard Höhn et de ses collègues: des cadres d’Aldi, de BMW, de Hoechst, mais aussi de Bayer, de Telefunken, d’Esso, de Krupp, de Thyssen, d’Opel, sans oublier Ford, Colgate, Hewlett-Packard et même la reine allemande du sex-shop et du porno, Beate Uhse International qui, comme 2500 entreprises, envoie ses managers écouter les bonnes leçons d’anciens SS.6«
Fragt man die mittlerweile rund 80-jährigen ehemaligen deutschen Manager – die maskuline Form ist hierbei nicht generisch – werden diese Bad Harzburg weniger mit einer alten Kurstadt im Harz als vielmehr mit der »Delegation von Verantwortung« verbinden. Das war die magische Formel der Harzburger Akademie. Durch die »Delegation von Verantwortung« an untere Führungsebenen sollte sich eine neue, moderne Art der Führung etablieren, die nicht mehr an bis dato gängige autoritäre Praxen erinnerte.
Die Harzburger Akademie der Führungskräfte, die Chapoutot als deutsches Pendant zur französischen INSEAD oder den in anderen europäischen Ländern stärker verbreiteten Schulen, die den MBA verleihen7, sieht, bildet das Hauptaugenmerk seiner Arbeit. An ihr zeichnet er die intellektuellen Prägungen Höhns als archetypisches Beispiel des nationalsozialistischen Erbes in der Bundesrepublik Deutschland umfassend und spitz nach: »On pourrait dire que Reinhard Höhn est une sorte de Josef Mengele du droit, son homologue, en tout cas.8«
Johann Chapoutot gelingt es in seinem Werk »Libres d’obéir. Le management du nazisme à aujourd’hui« aufzuzeigen, dass und inwieweit der Nationalsozialismus intellektuelle Spuren in der deutschen Nachkriegsgesellschaft hinterlassen hat. Die Brücke zwischen nationalsozialistischem Denker während des »Dritten Reichs« und Managementkoryphäe in der demokratischen Bundesrepublik zu bauen, gelingt ihm durchweg sehr gut. Dieser kurze, aber umfassende Band zur bundesdeutschen Managementgeschichte aus französischer Perspektive eignet sich nicht nur für ein Fachpublikum. Auch interessierte Lesende, die nach Spuren des NS im bundesdeutschen Alltag suchen, finden hier Antworten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stina Barrenscheen, Rezension von/compte rendu de: Johann Chapoutot, Libres d’obéir. Le management, du nazisme à aujourd’hui, Paris (Gallimard) 2020, 171 p. (nrf essais), ISBN 978-2-07-278924-3, EUR 16,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75660