Besser, man gibt es gleich vorweg zu: Der Rezensent ist kein Freund von kontrafaktischer Geschichtsschreibung. Es fällt den Historikerinnen und Historikern schwer genug zu erklären, was passiert ist – da können wir nicht auch noch erklären, was hätte passieren können. So hat man es vor 30 Jahren schon den eigenen Söhnen gesagt.

Aber dieser Band behauptet, dass eine »Uchronie« doch einigen Gewinn versprechen könne. Vielleicht ist es weniger Erkenntnisgewinn als Unterhaltungsgewinn? Immerhin liest sich dieses Büchlein gut und ansprechend. Das mag auch daran liegen, dass hier nicht nur Historikerinnen und Historiker, sondern auch Journalistinnen und Journalisten sowie Literaten und Literatinnen mitgewirkt haben. Ihnen allen hat der Herausgeber Xavier Delacroix (Essayist und Journalist) vorgegeben, dass der Schlieffenplan geglückt sei, die Schlacht an der Marne für Deutschland erfolgreich verlaufen sei, Frankreich am 11. November 1914 um einen Waffenstillstand nachgesucht habe und dann auf einer Serie von Friedenskonferenzen (in Versailles, Berlin und Jalta!) die Grundlinien der Ordnung Europas für das »andere 20. Jahrhundert« festgelegt worden seien.

Wie also hätte die Welt dann ausgesehen? Es kann hier nicht darum gehen, alle Beiträge einzeln vorzustellen. Eine Auswahl (zugegebenermaßen die Auswahl eines Historikers) muss genügen. Die Leserin und der Leser seien gewarnt: Alles, was jetzt folgt, ist natürlich fiktiv.

In einem Brief an seinen Sohn vom Juni 1918 erklärt Delacroix den Ansatz seines Buches, das Rational hinter der »Uchronie«: »Une telle idée nous conduit à porter un regard radicalement différent sur le siècle« (S. 17).

Danach beschreibt Stéphane Audoin-Rouzeau das operative Geschehen es August 1914, wie der Oberstleutnant i. G. Hentsch die deutsche Armee dazu bringt, den Druck auf beiden Flügeln aufrechtzuerhalten und damit letztlich die unerfahrenen französischen Truppenteile zurückzuwerfen, in denen die Disziplin auch durch kriegsgerichtliche Erschießungen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. (Hier ist allerdings die Frage erlaubt, ob man dem Handeln eines einzelnen Oberstleutnants wohl eine solche kriegsentscheidende Wirkung zuschreiben darf – aber das ist eine andere Geschichte, die ein anderes Mal geschrieben werden soll.) Schneidig vorgetragene französische Angriffe an einigen Stellen bleiben im Feuer der deutschen Maschinengewehre und der überlegenen Artillerie liegen. In einem »Wettrennen zum Meer« gelingt es dem britischen Expeditionskorps mit Mühe, sich über den Kanal zu retten.

Benoît Hopquin untersucht die Folgen der französischen Niederlage für die nationale Psyche am Beispiel eines an Leib und Seele versehrten normannischen Kriegsheimkehrers, der nicht einmal im vertrauten Familienkreis über seine Erfahrungen an der Front zu reden vermag. Pierre Lemaitre führt das Thema fort und berichtet von den innenpolitischen Erschütterungen, die sich aus der Delegitimierung des französischen Staates und dem wirtschaftlichen Elend ergeben.

Der bedeutende Historiker Robert Frank setzt sich dann mit der britischen Kriegspolitik auseinander. War London ursprünglich in den Krieg eingetreten, um das europäische Gleichgewicht zu sichern, so beeinträchtigt die maßlose deutsche Kriegszielpolitik (»Weltpolitik«) zunehmend britische Überseeinteressen. Premierminister Asquith, sein Finanzminister Lloyd George und sein Marineminister Churchill setzen eine Fortführung des Krieges durch, die auf einen Sieg über die Hochseeflotte und – analog zu den Napoleonischen Kriegen hundert Jahre zuvor – auf eine strategische Blockade Deutschlands setzt.

Die Deutschen landen in Madras und bedrohen die britische Position in Indien. Obwohl den Briten die Sicherung des Seewegs nach Indien durch den Suezkanal gelingt, behält das Reich über die Türkei und den Mittleren Osten die Kontrolle der Landwege nach Südasien. Die enge Verbindung mit der Pforte bringt aber auch Probleme mit sich: der vom Osmanischen Reich und deutschen Truppen zu verantwortende Genozid an den Armeniern resultiert im Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Die langen Kämpfe im Nahen Osten werden letztlich durch einen in Bethlehem geschlossenen Waffenstillstand beendet. Eine Berliner Konferenz Anfang 1916 erlaubt es dann, Wilsons Vorstellungen einer neuen, gerechten Weltordnung mit den kolonialen Interessen der Europäer (vor allem der Briten und der Deutschen, aber auch der Italiener) zu einem Ausgleich zu bringen.

Die deutschen Interessen in Indien greifen die beiden Historiker Quentin Deluermoz und Pierre Singaravélou wieder auf. Gestützt auf deutsche, indische und chinesische Quellen analysieren sie, wie die Deutschen ein unter ihrer Hegemonie stehendes Gegenreich »Dravidia« gründen. Hier begegnen uns dann der baltische Baron von Ungern-Sternberg, der aus Südafrika kommende indische Nationalist Mahatma Gandhi und sein deutscher Geliebter Hermann Kallenbach – eine komplexe Geschichte, die auch Hinterindien und Indochina einbezieht und letztlich im Auseinanderbrechen der australischen Föderation endet.

Wie Sophie Cœuré, Historikerin in Paris, darlegt, tritt Zar Nikolaus nach den katastrophalen Niederlagen in Ostpreußen und Galizien ab, zieht sich in ein Kloster zurück und überlässt die Regentschaft seiner Frau Alexandra, einer deutschen Prinzessin. Diese ernennt den Politiker Alexander Kerenski zum Premierminister, dem es gelingt, das Reich im Wesentlichen zusammenzuhalten. Der Aufstand der Sozialdemokraten unter Lenin im Oktober 1917 kann daran ebenso wenig ändern wie der Putschversuch radikaler Georgier unter ihrem Führer Josef Dschugaschwili. Irgendwo tauchen auch Kriegsminister Lew Dawidowitsch Bronstein, die progressive Frauenministerin Alexandra Kollontai und der baltische Adlige und Freikorpskämpfer Alfred Rosenberg auf – leider fehlt dem Band ein Personenregister.

Die Romanautorin Cécile Ladjali bietet dann Auszüge aus dem Tagebuch des Pasewalker Arztes und Psychiaters Edmund Forster, der einen etwas eigenartigen österreichischen Gefreiten von seiner Kriegspsychose und Blindheit heilt und dann mitverfolgt, wie dieser Aquarellist nicht nur Forsters Tochter ehelicht, sondern auch in Wien Kunst studiert und am Ende zum vielgelobten Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin avanciert – ein Star am Himmel der Maler, Bildhauer, Theatermacher, darunter viele Juden. Weitere Beiträge befassen sich dann noch mit der Auswirkung von Krieg und Kriegsausgang auf die Berliner und Pariser Kulturszene.

Es fällt schwer, sich aus der so vielschichtig geschaffenen und überzeugend-widerspruchsfrei geschilderten Geschichte zu lösen. Aber wozu das Ganze? In dem fiktiven Brief an seinen Sohn, aus dem eingangs schon einmal zitiert worden ist, schreibt Delacroix, eine »Uchronie« fordere eine »viscosité mentale« (S. 17) – ein Begriff, der sich vielleicht am ehesten als »Gehirnjogging« übersetzen lässt. Darum geht es: Sichtweisen zumindest probeweise zu wechseln, offen zu sein für andere Perspektiven. Aus einem Buch wie diesem resultiert nicht unbedingt ein Forschungsfortschritt, aber doch ein Gewinn an Reflexionsfähigkeit und Lesefreude.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Winfried Heinemann, Rezension von/compte rendu de: L’autre siècle. Et si les Allemands avaient gagné la bataille de la Marne? Uchronie dirigée par Xavier Delacroix, Paris (Fayard) 2018, 313 p., ISBN 978-2-213-71015-0, EUR 22,50., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75662