Im Jahr 1969 stellte der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher einleitend zu seinem Buch »Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus« fest: »Der Nationalsozialismus ist weitgehend erforscht«. Aus heutiger Sicht angesichts der Quantität (und Qualität) der seitdem erschienenen wissenschaftlichen Studien eine grobe Fehleinschätzung. So setzte zum Beispiel die wissenschaftliche Betrachtung der regionalen Ebene des NS-Staates erst verspätet und zaghaft in den 1990er-Jahren ein; die auch heute noch beeindruckende Untersuchung zu »Bayern in der NS-Zeit« (1977–1983) war zunächst ohne Nachfolger geblieben.

Auch die groß angelegten Untersuchungen zur NS-Belastung bundesdeutscher Ministerien begannen erst nach der Jahrtausendwende (als eine der ersten Veröffentlichungen: »Das Amt und die Vergangenheit« 20101). Und es gibt immer noch Forschungsfelder, bei denen eine quellenbasierte Untersuchung neue wichtige Erkenntnisse bringt: Dies zeigt eindrucksvoll das von der Landesregierung angestoßene und von der Baden-Württemberg-Stiftung geförderte Forschungsprojekt »Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus«, dessen Ergebnisse jetzt auf fast 1000 Seiten vorliegen und die bisher dominierende Untersuchungsebene der Reichsministerien um die regionale Sichtweise erweitern.

Zu lange hatte sich die exkulpierende zeitgenössische Nachkriegserzählung halten können, dass für die nationalsozialistische Politik, ihre Herrschaft und Verbrechen nur eine zentralstaatliche Verantwortung vorgelegen habe und spätestens mit dem »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches« vom 30. Januar 1934 (Art. 2 Abs. 1: »Die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über«) die Landesregierungen und -ministerien vollständig entmachtet worden seien.

Die beiden Herausgeber und die Herausgeberin Frank Engehausen, Sylvia Paletschek und Wolfram Pyta haben sich entschieden, die Studie in zwei Teilbänden erscheinen zu lassen, die sich jeweils der eigenständigen Teilgeschichte der beiden bis 1952 getrennten Länder Baden und Württemberg widmen. Gemeinsam ist ihnen ihr institutionengeschichtlicher Ansatz mit der Betrachtung der Landesministerien in der NS-Zeit, ihres Personals, der Aufgabenfelder und Entscheidungsprozesse sowie der Auslotung regionaler Prägungen und konkreter Handlungsspielräume in der Verwaltungspraxis unter den Bedingungen der NS-Herrschaft.

Beide Teilbände beginnen mit einem Überblick zur nationalsozialistischen Machtübernahme (für Baden: Frank Engehausen; für Württemberg: Frederick Bacher und Jutta Braun), dem sich jeweils ein kürzeres Kapitel zu den Landesregierungen bzw. Staatsministerien anschließt (Baden: Katrin Hammerstein, Württemberg: Frederick Bacher), den die Ministerpräsidenten Walter Köhler in Baden und seit Mai 1933 Christian Mergenthaler in Württemberg vorstanden.

Es folgen die längeren, zum Teil über 100seitigen, überwiegend aus den Archiven geschriebenen Kapitel über die Innenministerien (Baden: Robert Neisen, Württemberg: Carsten Kretschmann und Christoph Raichle), das badische Finanz- und Wirtschaftsministerium (Katrin Hammerstein), das württembergische Finanz- (Nina Schnutz) und Wirtschaftsministerium (Christoph Schmieder), das badische Ministerium des Kultus und Unterrichts (Frank Engehausen) und das württembergische »Kultministerium« (Jutta Braun) sowie die aufgrund der Verreichlichung der Justiz nur kurzlebigen Landesjustizministerien 1933/1934 (Baden: Frank Engehausen, Württemberg: Tobias Sowade und Sina Speit).

Als Besonderheit des badischen »Grenzgaus am Oberrhein« geht Marie Muschalek ausführlich auf die Geschichte der Zivilverwaltung im Elsass während des Zweiten Weltkriegs ein. Etwa 100 Abbildungen, überwiegend Fotografien aus Archivbeständen, ein 60-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis (auch mit Hinweisen zu digitalen Datenbanken) sowie ein Personen- und Ortsregister ergänzen und erschließen die einzelnen Studien.

Die Autorinnen und Autoren konnten sich nur auf vereinzelte wissenschaftliche Vorarbeiten wie das grundlegende Werk von Michael Ruck2 oder den Sammelband von Michael Kißener und Joachim Scholtyseck3 stützen; stattdessen mussten sie überwiegend Grundlagenforschung leisten und bislang weitgehend unberührte Archivbestände auswerten. Die Ergebnisse der Studien widerlegen in ihrer gesamten Breite die zeitgenössische exkulpatorische These von der politischen Ohnmacht der Landesministerien: Es findet sich hier das ganze Spektrum des gesellschaftlichen Handelns im Nationalsozialismus vom bloßen Mitläufertum zum engagierten NS-Aktivismus – was allerdings komplett fehlt ist Widerstand; selbst zaghafte Resistenz ist nur in Einzelfällen bemerkbar, und hierbei oftmals nur aus Gründen des Ressortegoismus.

Das deutsche Beamtentum funktionierte auch im deutschen Südwesten tadellos, und die Effizienz seiner bürokratischen Abläufe garantierte die Stabilität des mörderischen Staates bis zur bedingungslosen Kapitulation 1945. Und nicht nur das: Gerade bei den repressiv-verbrecherischen Maßnahmen wie der »Arisierung« oder der nationalsozialistischen »Erbgesundheitspolitik« zeigten die badischen Ministerialbeamten sogar Eigeninitiative und trugen dadurch zur Radikalisierung der NS-Politik bei. Marie Muschalek kann in ihrem Beitrag zeigen, dass durch die Besetzung und völkerrechtswidrige kalte Annexion des Elsass die sowieso schon bestehenden Handlungsspielräume der beteiligten badischen Ministerien noch erweitert wurden.

Ihre Untersuchung des vor Ort im Elsass befindlichen Personals der Zivilverwaltung zeigt außerdem, in welcher großen Quantität sich die nationalsozialistische Verwaltung im Elsass auf einheimische, elsässische Mitarbeiter stützen konnte: Um die 30 000 Elsässer, allerdings ganz überwiegend auf mittleren und subalternen Posten, führten die Anordnungen der circa 4500 reichsdeutschen, mehrheitlich badischen Bediensteten aus. Eine brisante Erkenntnis, die, zusammen mit den Forschungsergebnissen von Markus Enzenauer in seinem Aufsatz zu »Nazifizierung, Germanisierung und Organisationsgrad der elsässischen Bevölkerung«4 die Frage des Ausmaßes der elsässischen Kollaboration auf eine solide Datenbasis stellt.

Die einzelnen Beiträge stecken voller interessanter Einzelergebnisse und sind durchweg gut lesbar sowie verständlich geschrieben. Es fehlen jedoch eine Synthese und ein Vergleich der Verwaltungsgeschichte der beiden Länder. Beides muss die Leserin bzw. der Leser selbst leisten. Der in aller Konsequenz durchgezogene institutionengeschichtliche Ansatz, die Konzentration auf das Verwaltungshandeln der Landesministerien im engeren Sinne, muss zwangsläufig mit der sozialen Praxis des NS-Staates kollidieren, die durch das Neben- und Miteinander, manchmal auch Gegeneinander von Normen- und Maßnahmenstaat, von Staat und Partei, gekennzeichnet war.

Dieses polykratische Spannungsverhältnis wird jedoch nur am Rande berücksichtigt, genauso wie die Person des NSDAP-Gauleiters, badischen Reichsstatthalters und Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß Robert Wagner, die personifizierte »Einheit von Partei und Staat«, kaum biografische Beachtung findet. So bleibt es ein Einzelfall, wenn Frank Engehausen anlässlich der beiden Trauerfeierlichkeiten für den badischen Kultusminister und NS-Aktivisten Otto Wacker Anfang Februar 1940 in einer sehr anschaulichen Weise die Trennung in den Staatsakt im Karlsruher Ständehaus (mit Musik von Bach und Beethoven) und das von der NSDAP-Kreisleitung organisierte Begräbnis in Offenburg (mit dem Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes) schildert, anhand der Biografie des Verstorbenen und der Teilnehmer an den Feierlichkeiten aber die untrennbare Verknüpfung von Partei und badischen Staatsorganen deutlich sichtbar werden lässt.

Das besonders Innovative des Forschungsprojektes ist jedoch seine Einrahmung durch eine offensive »Public-History«-Politik, zu der Arbeitstagungen5 an verschiedenen Orten im Untersuchungsgebiet ebenso gehören wie eine informative Projekt-Website (https://ns-ministerien-bw.de/), mit einem Blog, auf dem zahlreiche kleinere Texte zu speziellen Themen und eine 86-seitige Zusammenfassung der zentralen Forschungsergebnisse abgelegt sind; ergänzende Materialien auch für fachdidaktische Zwecke ergänzen das Angebot: Public History, wie sie Schule machen sollte!

2 Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland, 4).
3 Michael Kißener, Joachim Scholtyseck, Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997 (Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 2).
5 Aus einer der Tagungen ging eine Publikation zu deutsch-französischen Besatzungsbeziehungen hervor, die in »Francia-Recensio 2020/3« von Byron Schirbock besprochen wird: Frank Engehausen, Marie Muschalek, Wolfgang Zimmermann (Hg.), Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018 (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A. Heft 27).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Möhler, Rezension von/compte rendu de: Frank Engehausen, Sylvia Paletschek, Wolfram Pyta (Hg.), Die badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus. 2 Teilbände, Stuttgart (Kohlhammer) 2019, LXXXI–992 S., 103 Abb. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen, 220), ISBN 978-3-17-035357-2, EUR 78,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75663