Das ursprünglich in französischer Sprache publizierte und nun in deutscher Übersetzung vorliegende Sammelwerk »Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte« darf als eine der wichtigsten Publikationen im Feld der europäischen Geschichte der letzten Jahre gelten. Aufgrund der jüngsten politischen und ökonomischen Transformationsprozesse stellt sich mehr denn je die Frage, was »Europa« im 21. Jahrhundert bedeuten könnte. Aber auch der fachinterne Boom der Globalgeschichte hat die Perspektiven geändert, da europäische Geschichte nicht mehr allein mit vergleichenden oder transnationalen Ansätzen erforscht, sondern Europa in seinen weltweiten Verflechtungen betrachtet und gewissermaßen »provinzialisiert« wird. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass die vorliegenden Bände die Frage der Relevanz der Geschichte für das Europa der Gegenwart aufwerfen, das ›Proprium‹ Europas problematisieren und für das große Publikum eine breit aufgefächerte Zusammenschau der europäischen Erinnerungsgeschichte bereitstellen. Die mit diesem Vorhaben verfolgten Ziele bringen die beiden Herausgeber des Gesamtwerkes, Étienne François und Thomas Serrier, in der eigens für die deutsche Ausgabe verfassten Einleitung auf den Punkt: »Europa neu denken, Europa in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung denken, Europa gemeinsam denken« (S. 9).
Das umfangreiche Werk, das aus 133 Aufsätzen und Essays besteht, soll insofern keine historiografische Synthese oder eine neue Meistererzählung der Geschichte Europas liefern, sondern Orientierung bieten mittels »eine[r] erste[n] phänomenologische[n] und strukturale[n] Analyse der europäischen Erinnerungen in ihrer Gesamtheit« (Bd. 1, S. 17). Es handelt sich insofern um den groß angelegten Versuch einer »Verortung Europas mithilfe seiner geteilten und gemeinsamen Erinnerungen in einer globalen Zeit« (Bd. 1, S. 10).
Das Gesamtwerk, so formulieren die Herausgeber ihre geschichts- und erinnerungspolitischen Vorstellungen pointiert im Schlusswort, soll als eine Art »Seismograph der Gegenwart« wirken, den »unerschöpflichen Reichtum an erinnerungskulturellen Spiegelungen« der europäischen Vergangenheit erfassen und deutlich machen, dass sich in Europa ein kollektives Gemeinschaftsgefühl bzw. eine übergreifende Identität entfalten könnte, wenn die Europäer ein spezifisches »Gedächtnis« von der geschichtlichen Vielfalt ›ihres‹ Europas (Bd. 3, S. 467–469, 472) erlangen würden.
Dementsprechend liegt dem Werk keine vorab festgelegte Konzeption von Europa zugrunde, das in seiner gesamten geografischen und zeitlichen Ausdehnung behandelt wird, obschon die Neuzeit dominiert. Letzteres dürfte auch damit zusammenhängen, dass es um die Rekonstruktion von europäischen Erinnerungsorten geht, die jede Leserin bzw. jeder Leser für sich auswählen und zu seiner eigenen europäischen Erinnerung zusammenstellen kann. Die Offenheit einer solchen »polyzentrische[n] und kaleidoskopische[n] Herangehensweise« (Bd. 1, S. 13) bietet große Vorteile, doch wird am Ende nicht ganz klar, wie daraus eine »europäische Identität« und ein »Wir« (Bd. 3, S. 468, 475f.) der Europäer hervorgehen könnte. Ob die Geschichtswissenschaft überhaupt zur Konstruktion von politischen Identitäten beitragen sollte, ist eine andere Frage, die im Fach durchaus kontrovers debattiert wird.
Die skizzierte Offenheit der Konzeption des Werks hat freilich auch ihre Grenzen, denn die Herausgeber treffen selbstverständlich eine (im Übrigen kluge) Auswahl von Elementen des europäischen Gedächtnisses bzw. von Erinnerungsorten. So ist es Étienne François und Thomas Serrier gelungen, mithilfe der Herausheber der drei Einzelbände ein internationales Team von Experten aus unterschiedlichen Generationen zusammenzustellen, das eine beeindruckende Spannbreite an Themen bearbeitet.
Im ersten von Akiyoshi Nishiyama und Valérie Rosoux herausgegeben Band wird die »lebendige Vergangenheit« Europas behandelt, also europäische Erinnerungsorte wie der Nationalsozialismus, der Kommunismus, Deportationen, Völkermorde und die Kriege des 20. Jahrhunderts, die ebenso zum europäischen Gedächtnis gehören wie einzelne »strukturierende« Epochen (etwa die Aufklärung sowie »1968« oder »1989«) oder auch Erinnerungsorte, mit denen sich Erfolgsgeschichten verbinden (etwa der europäische Sozialstaat oder die Menschenrechte). Zudem werden Ursprungserzählungen thematisiert, so die Rolle des Rechts und der Stadt Rom, aber es finden ebenso Kämpfe und deren Symbole Berücksichtigung, die sich in das europäische Gedächtnis eingegraben haben: Streiks, die Barrikaden, der Feminismus oder schließlich die mit erstaunlich vielen positiven Erinnerungen verbundene Klassengesellschaft.
Der zweite, von Pierre Monnet und Olaf B. Rader herausgegebene Band widmet sich dem Thema »Vielfalt und Widersprüche« und ist in sechs Kapitel gegliedert, die deutlich machen, dass Erinnerungen umkämpft waren und sich aus dem Widerstreit unterschiedliche Gruppen ergaben. In einem ersten Abschnitt werden europäische »Helden und Verdammte« porträtiert, von Alexander und Cäsar über Leonardo und Napoleon bis Shakespeare. In den folgenden Kapiteln werden Landschaften, Emotionen, Grenzen und Begegnungsräume behandelt. Auf diesem Wege werden Städte wie Venedig, Prag und St. Petersburg oder auch Räume thematisiert, mit denen sich spezifische Erinnerungen verbinden (etwa mit dem Balkan).
Im dritten von Jakob Vogel herausgegebenen Band werden »globale Verflechtungen« Europas unter den Kapitelüberschriften »Erobern«, »Benennen«, »Exportieren« und »Austausch« behandelt. Die Vielfalt der Themen ist wie bei den anderen Bänden beeindruckend und reicht von klassischen Themen wie Kapitalismus, Sklaverei und Revolution, der Rolle von Kirche und Christentum, den Beziehungen Europas zu Afrika oder Asien bis hin zum »Swinging London« und der Geschichte der Kalaschnikow. Durch die Vielfalt der Themen, die verständlich und anschaulich präsentiert werden, kann sich die Leserin bzw. der Leser ein Bild verschiedenster Facetten des europäischen Gedächtnisses machen. Dass dennoch viele Erinnerungsorte keine Berücksichtigung gefunden haben, sollte dem Unternehmen von François und Serrier nicht angelastet werden, da Vollständigkeit nicht erreicht werden kann.
Auch wenn man damit nicht allen Beiträgen im Einzelnen gerecht wird, fragt man sich dennoch, ob dem Werk insgesamt nicht etwas mehr »Geschichtsschreibung« gutgetan hätte, so anschaulich die Präsentation von Erinnerungen auch sein mag. Viele der Beiträge changieren ohnehin zwischen Geschichte, Erinnerungsgeschichte und einer Bestandsaufnahme des europäischen Gegenwartsgedächtnisses. Dass beispielsweise die in vielen Beiträgen zitierten Spielfilme anschaulich die Vergangenheit präsentieren, steht außer Frage. Aber welche Vergangenheit präsentieren sie, und sind sie tatsächlich ein Indikator für die Gegenwart von europäischer Geschichte? Ergeben sich Erinnerungen, die Europäer teilen können, wenn viele von ihnen den gleichen Film im Kino sehen? So könnte es hilfreich sein, Anregungen von Jay Winter (Bd. 1, S. 41–42) aufzugreifen und systematischer zu fragen, welche Rolle Medien für die Entwicklung von Erinnerungen spielen und warum sich Booms und regelrechte Märkte des Gedächtnisses entfalten. Auch die Konstruktionsprozesse von europäischen Erinnerungsorten sind nicht vor der politischen Instrumentalisierung und Manipulation von Geschichte gefeit gewesen. Aber dies sind Überlegungen, die sich aus der anregenden Lektüre eines großartigen Werkes ergeben, das in der Diskussion über europäische Erinnerungsgeschichte und die Geschichte Europas eine bedeutsame Rolle spielen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Kroll, Rezension von/compte rendu de: Étienne François, Thomas Serrier (Hg.), Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte. Bd. 1: Lebendige Vergangenheit; Bd. 2: Vielfalt und Widersprüche; Bd. 3: Globale Verflechtungen. Aus dem Französischen von Jürgen Doll, Walther Fekl und Dieter Hornig. Wissenschaftliche Mitarbeit: Mike Plitt, Darmstadt (wbg Theiss) 2020, 1544 S., 140 Abb., ISBN 978-3-8062-4021-4, EUR 129,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75666