Als 2019 Zeilen wie: »Deutschland, mein Herz in Flammen/Will dich lieben und verdammen« in einem Charthit zu hören waren, entbrannte abermals eine Debatte über den Zusammenhang von Pop-Musik und »Deutschtümelei«. In zahlreichen Feuilletonartikeln versuchten Autorinnen und Autoren den Songtext und vor allem das Musikvideo der Rockband zu entschlüsseln, um abschließend darüber zu befinden, ob das plakative Spiel Rammsteins mit nationaler Identität und deutscher Geschichte nun problematisch sei oder nicht1. Der vorliegende Sammelband »Dreams of Germany«, basierend auf einer Tagung am Deutschen Historischen Institut London 20152, stellt sich ähnlichen Fragen mit einem deutlich weiteren Blick.
Die Beiträgerinnen und Beiträger, hauptsächlich Historikerinnen und Historiker, Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, widmen sich Konstruktionen des »Deutschseins« in der Musik und decken dabei die Zeit des späten 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit ab. Wie beim erklärten Vorbild »Music and German National Identity« von Pamela Potter und Celia Applegate, steht dabei klassische Musik im Mittelpunkt, ergänzt durch Aufsätze zu den Feldern Rock, Pop und Techno3. Der Band möchte dabei neue Schlaglichter werfen, etwa durch die Verwendung von Ansätzen aus der Globalgeschichte, durch postkoloniale Theorien und durch den Versuch einer Abkehr von einer zu starken Textlastigkeit bei der Untersuchung von Musik. Die zentralen Begriffe »Germanness« und »national identity« werden breit gefasst und sollen explizit den Blick auf Regionalismen offenlassen, denn gerade dort würde sich das Nationale konstituieren.
Der Sammelband ist in vier Sektionen »Spaces and Moments of Affect«, »The Local, the Regional, the National«, »Globalizing Musical Germanness« und »Fantasies, Reminiscences, Dreams, Nightmares« aufgeteilt. Insbesondere Regionalismen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Sammelband. Dabei kommt besonders der selbsternannten Musikstadt München eine prominente Rolle als Untersuchungsobjekt zu, der sich drei Aufsätze widmen. Neil Gregor versucht in seinem Beitrag eine Neubewertung der Geschichte der nationalistischen Vereinnahmung Bruckners mit einem regionalen Fokus auf München anzubieten. So betont er die zahlreichen Kontinuitäten in der Bruckner-Rezeption, die es seit der Weimarer Republik über die NS-Zeit bis in die Nachkriegszeit gegeben habe. Er richtet sich gegen die verbreitete Lesart der Machtübernahme der Nationalsozialisten als großer Bruch in der Deutung des Komponisten.
Dana Smith stellt in ihrem Aufsatz fest, dass in der Forschung bisher vor allem der Berliner Kulturbund Deutscher Juden, eine Selbsthilfeorganisation gegen die Repressionen im NS, im Mittelpunkt gestanden habe. Das bayerische Pendant dieser Institution habe dagegen über einen deutlich höheren Frauenanteil verfügt und einen stärkeren Fokus auf folkloristische jüdische Musik gehabt. Letzteres erklärt sich Smith u. a. mit einer durch die vielen semiprofessionellen weiblichen Mitglieder vorangetriebenen Abkehr von klassischen Hochkultur-Konzeptionen sowie durch die ländlichere Prägung der Institution. Das in dieser Sektion häufig tangierte Verhältnis zwischen dem Lokalen und dem Nationalen hätte auch in vielen der anderen Sammelband-Beiträge behandelt werden und so für noch aussagekräftigere Ergebnisse sorgen können.
Die größte Neuerung gegenüber dem Sammelband von Potter und Applegate besteht in der Integration der affektiven Dimension von Musik in einigen Aufsätzen. Hansjakob Ziemer löst die von den Herausgebern skizzierten Ansätze in seinem Aufsatz zur Praktik des Konzertbesuchs in Kaiserreich und Weimarer Republik überzeugend ein. Ziemer zeigt, wie der Konzertsaal über das gesamte politische Spektrum hinweg als Abbild einer Gesellschaft im Kleinen verstanden wurde. Aus diesem Grund wurde der Konzertsaal zum Ziel vielfältiger Reform- bzw. Disziplinierungswünsche, die aber spätestens in der Weimarer Republik enttäuscht worden seien. Dies hätte aber keineswegs zu einer Erschütterung des grundsätzlichen Glaubens an die Existenz nationaler Musik geführt.
Luis-Manuel Garcias Aufsatz widmet sich ebenfalls affektiven Praktiken, grenzt sich aber nicht nur durch seinen jungen Forschungsgegenstand, sondern auch durch die Methode ab. In einer Mischung aus teilnehmender Beobachtung und Interviews arbeitet Garcia heraus, dass Besucher*innen einer schwulen Technoparty-Reihe in Berlin ihre lokale bzw. subkulturelle Zugehörigkeit meist mit einem speziellen Gefühl erklärten anstatt mit einer konkreten sozialen Verankerung. Gerade diese affektive Dimension von populärer Kultur ist für Historikerinnen und Historiker retrospektiv viel schwerer greifbar. Wie Garcia zeigt auch Julia Sneeringer in ihrer Studie zur Beat-Musik im Hamburg der 1960er-Jahre, dass die Protagonistinnen und Protagonisten sich selbst explizit als transnationale Szene identifizierten.
Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes stellen globale Transferprozesse dar. Dies schlägt sich vor allem in Brooke McCorkles Aufsatz zur Wagner-Rezeption in Japan nieder. Im Meiji-Japan habe Wagner ein Simulakrum für japanische Träume und Vorstellungen von sozialer Revolution dargestellt. Dabei seien vor allem Texte von und über Wagner wichtig gewesen – zu tatsächlichen Aufführungen der Musik, geschweige der Zirkulation von Noten, sei es erst im Nachgang gekommen. Der Herausgeber Thomas Irvine nähert sich in seinem Beitrag dem britischen Komponisten und Liberalen Hubert Parry, der im Vereinigten Königreich lange als Advokat deutscher Musik aufgetreten war. Mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) versucht Irvine neue Perspektiven auf die von einem rassistischen Weltbild geleitete Wissensproduktion von Parry und dessen internationale Zirkulation zu eröffnen. Irvine kann zeigen, dass Parrys Vorstellungen von einer überlegenen „nordischen“ Musik weit durch das Britische Empire reisten und sich auch in den USA verankern konnten. Der spezifische Nutzen der ANT für die geschichtswissenschaftliche Forschung wird in der knappen Form eines Aufsatzes allerdings noch nicht richtig deutlich. Die in den beiden Beiträgen gewählte globale Perspektive auf Germanness erweist sich aber als sehr fruchtbar.
Insgesamt vermag der Sammelband die in der Einleitung formulierten Ziele einzulösen. Gerade die Aufsätze zu affektiven Praktiken sowie dem Spannungsverhältnis vom Regionalen zum Nationalen sind überzeugend und stellen eine profunde Aktualisierung des Bandes von Potter und Applegate dar. Die angekündigten Methoden und Sichtweisen der Postcolonial Studies tauchen dagegen nur sporadisch in den Beiträgen auf. Dazu bewegen sich viele Aufsätze weiter im Umfeld kanonischer (männlicher) Komponisten. Diese Kritikpunkte schmälern den positiven Gesamteindruck des Sammelbands von Gregor und Irvine allerdings nur unwesentlich. In zukünftigen Arbeiten wäre ein stärkerer Fokus auf die Konstruktion von nationalen Identitäten in der populären Musik und klassischer Musik jüngeren Alters bzw. außerhalb des Kanons wünschenswert. Die Popforschung kreist schon seit längerem um das Thema, aber gerade für empirisch unterfütterte Arbeiten besteht weiterhin ein Desiderat . Insbesondere die von Sneeringer und Garcia beobachtete ostentative Abkehr vom Nationalen dürfte noch in vielen zukünftigen musikhistorischen Arbeiten verhandelt werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Tom Koltermann, Rezension von/compte rendu de: Neil Gregor, Thomas Irvine (ed.), Dreams of Germany. Musical Imaginaries from the Concert Hall to the Dance Floor, New York, Oxford (Berghahn) 2019, XII–307 p., 14 ill. (Spektrum: Publications of the German Studies Association, 18), ISBN 978-1-78920-032-4, USD 130,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75673