Während der NS-Herrschaft wurden in den von Deutschland besetzten Gebieten in Europa nicht nur eine riesige Menge von Kunstobjekten geraubt, sondern auch viele private und öffentliche Bibliotheken geplündert und Millionen von Bänden verschleppt. Zwar konnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Vieles zurückgegeben werden, doch gerade im Bereich der Büchersammlungen ist immer noch viel verschollen und muss der Weg von Beständen mühsam recherchiert werden. In Deutschland zeugen zahlreiche Provenienzprojekte der Bibliotheken, meist gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, von diesen Bemühungen.
Der hier anzuzeigende Band geht der Frage nach dem Verbleib von den Nazis geraubter französischer Bibliotheken unter verschiedenen Blickwinkeln nach. Er versammelt 13 Vorträge, die im März 2017 bei einer internationalen Tagung in Paris gehalten wurden. Veranstalter war die Enssib (École nationale supérieure des sciences de l'information et des bibliothèques), eine Hochschule zur Aus- und Weiterbildung französischer Bibliothekare und Informationswissenschaftler. Die Beiträge verfassten jüngere Forschende ebenso wie etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in Frankreich, Deutschland, Österreich, USA und Belarus verortet sind. Universitäre Forschung und Kunstverwaltung ist vertreten, stark aber auch Praktiker aus den Bibliotheken selbst; weit überwiegend übrigens handelt es sich um Forscherinnen.
Einleitend bietet Patricia Kennedy Grimsted, Grande Dame der Provenienzforschung, einen Überblick über den gesamteuropäischen Aspekt des Bücherraubs, seine Akteure, die Lagerorte und die weiteren Wege nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, während die Herausgeberin Martine Poulain, ebenfalls eine Kennerin der Materie, intensiv für die Restitution von Beständen an Erben oder Nachfolgeorganisationen plädiert.
Der zweite Abschnitt stellt einzelne Recherchen und Funde vor, so beschäftigt sich Nathalie Neumann mit einer bis heute vermissten privaten Büchersammlung aus dem Elsass, während Maria Tischner über die Recherche nach der Bibliothek des nach Frankreich geflüchteten Münchner Kunsthistorikers August Liebmann Mayer (1884–1944) und die anschließende Restitution von 30 Bänden berichtet. Christina Köstner-Pemsel stellt eine größere Einlieferung französischer Bücher vor, die 1942 durch die Gestapo an die Universitätsbibliothek Wien kamen; Sebastian Finsterwalder berichtet über Bände französischer Herkunft, die an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ermittelt werden konnten.
Anatole Stebouraka geht auf die in der Nationalbibliothek von Belarus aufgefundenen Werke französischer Provenienz ein und belegt damit eindrücklich die weiten Wege, die geraubte Bestände nehmen konnten. Auch der von Patricia Sorel nachgezeichnete Verbleib der hochwertigen bibliophilen Sammlung von Pierre Guerquin wirft noch viele Fragen auf.
Ein dritter Teil befasst sich mit Raubgut in französischen Bibliotheken. Anne Pasquinon und Eve Netchine beschäftigen sich mit der Nationalbibliothek, Dominique Bouchery geht auf Bestände in der BDIC ein (seit 2018 »La Contemporaine«), einer Institution, die auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts spezialisiert ist. Ihre Bestände waren gegen Ende des Kriegs stark dezimiert worden, als Kompensation erhielt die BDIC Bestände ehemaliger NS-Bibliotheken wie der Ordensburg Sonthofen, in denen sich wiederum Raubgut befand.
Wechselvoll war auch die Geschichte der Straßburger Bibliothèque nationale et universitaire, die unter der deutschen Besatzung erheblich von Raubgut profitierte, das nach Kriegsende zurückgegeben werden musste. Dass sich solches Material auch in Neugründungen finden kann, zeigt Benjamin Guichard am Beispiel der Bibliothèque universitaire des langues et civilisations in Paris.
Der Band hat ein ansprechendes Layout, seine Typografie ist sehr leserfreundlich. Er ist mit vielen, teils farbigen Abbildungen ausgestattet, erklärt in einem Glossar historische Begriffe, verfügt über ein knappes Sachregister, eine Auswahlbibliografie sowie über Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren. Vor allem aber bietet er, etwas versteckt hinter einem langen Link1, auch jene Vorträge der Tagung, die ebenfalls Bücherraub und -restitution zum Gegenstand hatten, aber nicht auf das Schicksal französischer Bibliotheken fokussiert waren (aufgelistet S. 219). Sie sind online abrufbar, auch als Videos, zudem findet sich dort die Fassung mancher Vorträge in englischer Sprache. So ist das kleine Manko, dass englische Resümees der Vorträge fehlen, auf diese Weise etwas behoben.
Insgesamt zeigt der Band die weite Verstreuung geraubter Büchersammlungen, gleichzeitig belegt er die Notwendigkeit differenzierter Betrachtung und exakter Recherche. Deutlich wird vor allem, dass man sich diesem Thema weiterhin und immer wieder von neuem stellen muss. Es bleibt eine dauerhafte Aufgabe, dem Schicksal von Bibliotheken nachzugehen und Gefundenes nach Möglichkeit wieder zu restituieren – auch wenn dieser Prozess 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mühsam sein mag. Werke wie dieser Tagungsband liefern einerseits durch Einzeluntersuchungen neues Wissen über Zusammenhänge, schärfen aber auch das Bewusstsein dafür, wie wichtig gerade in diesem Bereich eine Vernetzung der Forschenden auch über nationale Grenzen hinweg ist – ist es doch einer Büchersammlung inhärent, dass sie völlig atomisiert werden kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephan Kellner, Rezension von/compte rendu de: Martine Poulain (dir.), Où sont les bibliothèques françaises spoliées par les nazis?, Villeurbanne (presses de l’enssib) 2019, 231 p. (Papiers), 67 ill., ISBN 978-2-37546-106-8, EUR 15,00., in: Francia-Recensio 2020/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.3.75683