Die hier gesammelten und allesamt bereits zwischen 1982 und 2012 veröffentlichten 17 Beiträge des Autors zur Geschichte der Jeanne d’Arc und Frankreichs im 15. Jahrhundert stellen in keiner Weise die Summa des Lebenswerks eines kurz vor seinem 90. Lebensjahr stehenden Gelehrten dar, das in fast sechs Jahrzehnten kontinuierlicher und dichter Publikationstätigkeit zu einer Fülle herangewachsen und gereift ist, deren Dimensionen nur staunen lassen und für die auch drei weitere, schon in den 1980er und 1990er Jahren erschienene Bände mit ausgewählten Aufsätzen stehen1.
Der deutschsprachige Leser mag sich einen ersten Überblick im OPAC der »Regesta Imperii« verschaffen, wo – Stand September 2020 – nicht weniger als 524 Veröffentlichungen Contamines aus den Jahren 1972 bis 2019 verzeichnet sind. Dabei ist diese Liste wohlgemerkt unvollständig – so fehlen auch etliche Titel aus dem vorliegenden Buch – und sie berücksichtigt nicht die mit 1963 einsetzenden frühen Publikationen, beginnt aber mit der fundamentalen (und 2003/2004 übrigens wieder aufgelegten) thèse d’État »Guerre, État et Société à la fin du Moyen Âge« aus dem Jahr 19722.
Und was Jeanne d’Arc angeht, ließen sich ohne Schwierigkeiten noch mehrere Bände mit Aufsätzen Contamines über die Pucelle zusammenstellen, wobei obendrein viele seiner über das 15. Jahrhundert handelnden Untersuchungen selbstredend auch das Thema Johanna aufgreifen, ganz abgesehen von dem großen, in wesentlichen Teilen von ihm getragenen Werk »Jeanne d’Arc. Histoire et dictionnaire« (2012) und dem Platz, den die Jungfrau in seiner Biografie Karls VII. (2017) einnimmt3. Ob es um Politik- und Diplomatie-, Sozial-, Wirtschafts- und Militärgeschichte (bis hin zur Bedeutung der Pferde) oder um Adel, Finanz und Administration in diesem Saeculum oder eben um dessen zentrale »Heldin« geht, Contamine hat als deren bester Kenner zu gelten, und seine stets in nüchtern-unprätentiösem Stil verfassten Bücher und Aufsätze erfreuen sich über den Kreis der professionellen Spezialisten hinaus großer Bekanntheit und Reputation; so erreichten seine obendrein vielfach übersetzten Monografien über den Hundertjährigen Krieg und den Krieg im Mittelalter neun bzw. sechs Auflagen4.
Aus diesem Grund wäre es auch unangebracht, die hier vorgelegten Studien, bei denen es sich ja wohlgemerkt um – in den Anmerkungen behutsam um Hinweise auf neuere Literatur ergänzte – Nachdrucke handelt, im Einzelnen vorstellen zu wollen. Generell gilt, dass sie alle strikt quellenbasiert sind (manche verfügen über einen eigenen Dokumentenanhang) und dem jeweils gewählten Thema bis ins Detail nachspüren, ohne dass der Verfasser sich aber positivistisch im Ereignisgeschichtlichen erschöpfte. Denn stets gilt für ihn die Devise »toute histoire doit être une histoire-problème«5.
Aus der Basis einer von allen Moden und Trends unberührten Gelehrsamkeit erwächst die methodisch-historische Analyse und Einordnung in größere Zusammenhänge getreu auch der eigenen Einschätzung, die er 2017 anlässlich der Verleihung des grand prix du livre d’histoire für die erwähnte Biografie Karls VII. äußerte: »Je me vois comme un historien éclectique, irénique« (bei dem Historiker des Kriegs – und des Friedens! – handelt es sich in der Tat um einen der friedliebendsten Kollegen), »méthodique et critique«.
Jeanne d’Arc bildet die alle Beiträge verbindende Mitte der Aufsatzsammlung. Das ist jedenfalls der Tenor der kurzen Einleitung (S. 7–12), doch nur vier Studien setzen sich direkt mit ihr auseinander und bei zwei weiteren geht es um ihre Wirkungsgeschichte, nämlich um ihr Bild bei Shakespeare sowie um das Werk von Jules Quicherat, dem Editor der Akten des Kondemnations- und Nullitätsprozesses der Jungfrau und Autor der »Aperçus nouveaux sur l’histoire de Jeanne d’Arc« (1841–1849 bzw. 1850).
Zwei weitere Beiträge leuchten den Rahmen des Hundertjährigen Kriegs aus, wobei der eine (»De la modernité de la guerre de Cent Ans«) entgegen der Angabe S. 15 Anm. 1 bereits anderwärts gedruckt wurde, nämlich in dem oben in Anm. 1 zitierten Sammelband »De Jeanne d’Arc aux guerres d’Italie« (1994). Was gleichfalls für den zweiten, »La théologie de la guerre à la fin du Moyen Âge«, gilt, der, erstmals 1982 publiziert, mithin 2020 einen neuerlichen Wiederabdruck erlebt ebenso wie alle hier vorgelegten Aufsätze, die vor 1994 erschienen sind6! (Mit Blick auf formale Kriterien ist der von Guy Stavridès edierte Band von den unterbliebenen Hinweisen auf die – fotomechanischen – Nachdrucke der Aufsätze 1994 bis hin zur fehlerhaften Durchzählung der Studien nicht ohne Mängel.)
Die sonstigen neun Beiträge stehen in eher losem Zusammenhang mit Johanna wie etwa der verdienstvolle Überblick über das wenig bekannte Leben und Wirken des Jacques Gélu, Erzbischofs von Tours und Embrun, der im Juni 1429 eine an Karl VII. gerichtete Epistola zugunsten der Jungfrau verfasste. Meist aber handeln sie von gänzlich anderen Sujets wie etwa die beiden Studien zur Spätzeit des Herzogs Karl von Orléans, worin Contamine dank des Fundes eines Rechnungsfragments eindrucksvoll auf die Frömmigkeitsformen und -praktiken des Adels der Zeit schließen kann. Als typisch für seine aus den Quellen geschöpften und analysierend zu weiter reichenden Konklusionen führenden Untersuchungen haben zudem seine Aufsätze zu den mailändischen Kampagnen Ludwigs XII. 1499/1500 zu gelten und hier im Besonderen zu Auftritt und Lebensstil des »grand capitaine« Louis de La Trémoille, wie sie sich aus dessen Rechnungsbüchern abzeichnen.
Ich will es aber, wie gesagt, bei generellen Anmerkungen belassen, jedoch eine der Johanna-Studien hervorheben: Der zumindest mir bislang unbekannte Beitrag »Mythe et histoire: Jeanne d’Arc, 1429«, erstmals 1992 in einer mir ebenfalls nicht bekannten, kurzlebigen Zeitschrift »Razo« (Centre d’études médiévales de Nice) erschienen und mir auch im Nachdruck 1994 entgangen, verdient besondere Aufmerksamkeit wegen des klar und scharf herausgearbeiteten Gegensatzes zwischen der Mythisierung Johannas seit ihrem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit einerseits und dem mäßigend-realistischen Gegensteuern durch König und Teile des Hofs andererseits.
Formulierungen wie »Au commencement était le mythe« oder »Dès le départ, Jeanne d’Arc était plus que Jeanne d’Arc« (S. 117, 127) erinnern in ihrer Prägnanz an die Wortkunst seines langjährigen Universitäts- und Akademiekollegen Bernard Guenée, und seine abschließende und scheinbar simple Feststellung sollte über jeder Beschäftigung mit der Pucelle stehen: »L’histoire de Jeanne d’Arc a beau avoir tous les caractères, toutes les dimensions d’un mythe, elle n’en est pas moins positivement vraie, au sens banal du terme« (S. 132). Gleichsam en passant wird hier zudem mit scheinbar unausrottbaren Mythen wie der königlichen Abstammung Johannas oder deren Entkommen vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen aufgeräumt. Ein eigener Aufsatz geht gegen einen weiteren Mythos an, den einer Königinmutter Yolande von Aragón, die – so ohne Quellenbelege vor allem Philippe Erlanger – aus dem Hintergrund über Jeanne d’Arc machtvoll ihre schützende Hand gehalten haben soll7.
Dass Johanna über Jahrzehnte bei Contamine in bester historiografischer Hand war, bestätigt dieses Buch einmal mehr. Und mehr noch, was er auf seinem – so er selber – »pèlerinage de vie humaine« über mehr als ein halbes Jahrhundert für die französische Geschichtswissenschaft – und auch als Freund der deutschen – geleistet und wie er ihr in vielen Ämtern und Funktionen gedient hat, das lässt an die an Karl VIII. gerichteten Worte eines alten und getreuen Fahrensmannes der französischen Krone, des hier mit einer eigenen Studie bedachten Jean d’Estouteville, Herrn von Torcy und Blainville, denken: J’ay servy comme chef de guerre par le temps de soixante ou quatre vingt ans messieurs vos prédécesseurs et vous (S. 256).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Philippe Contamine, Jeanne d’Arc et son époque. Essais sur le XVe siècle français, Paris (Les éditions du Cerf) 2020, 381 p., 16 ill., ISBN 978-2-204-13754-6, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77185