Françoise Gasparri scheint ihren Autor zu mögen, »ce sympathique chanoine victorin« (S. 23), und das ist nur allzu gut nachvollziehbar: Gottfried von St. Viktor verschafft uns dank seiner Autoportraits und Autografen Möglichkeiten eines »Kennenlernens«, wie es bei nur wenigen mittelalterlichen Autoren der Fall ist. Sein vielfältiges dichterisches, musikalisches, homiletisches, möglicherweise auch kanonistisches Werk ist jedoch immer noch kaum erschlossen und nur wenigen Expertinnen und Experten näher bekannt – Gasparri ist eine von ihnen. Dank ihrer jahrelangen Beschäftigung mit den Buchbeständen von St. Viktor und insbesondere den Gottfried’schen Autografen ist Gasparri, archiviste paléographe und Historikerin, für die nun vorliegende Edition und Übersetzung des »Microcosmus« bestens ausgewiesen.
In diesem Werk legt Gottfried dar, warum der Mensch »Mikrokosmos« genannt werden könne, und deutet in der Konsequenz das Sechs-Tage-Werk als Allegorie auf die noetischen und ethischen Anlagen und Möglichkeiten des Menschen. Für die Editorin ist das Prosawerk ein Aufruf zur Konversion des Herzens, ein spirituelles Testament des Pariser Kanonikers (S. 33). Die knapp gehaltene Einleitung ordnet dieses Unternehmen in die historischen Gegebenheiten innerhalb der Stadt Paris und speziell im Stift von St. Viktor in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein. Um 1125 geboren, studierte Gottfried etwa in den Jahren 1145 bis 1150 an der Schule des Adam von Petit-Pont und dürfte auch selbst gelehrt haben.
Seine Mitte der 1170er Jahre verfasste Dichtung »Fons Philosophiae« reflektiert diese Studienzeit und stellt unter anderem für die philosophischen sectae, etwa die Nominalisten und Parvipontaner, eine philosophiegeschichtlich wichtige Quelle dar. Zu diesem Zeitpunkt war Gottfried jedoch schon etwa 20 Jahre lang Kanoniker in St. Viktor, wo er eventuell das Amt des armarius ausübte, das heißt, das sorgfältige Kopieren und Konservieren von Büchern überwachte. Im Antritt Walters als Prior von St. Viktor im Jahr 1173 sieht Gasparri den Ursprung einer Krise, die zu Gottfrieds Exil (ca. 1178 bis 1194) an einem unbekannten Ort führte. Walters Polemik »Contra quatuor Labyrinthos Franciae« habe sich demnach nicht nur gegen die Methoden Abaelards, Gilberts von Poitiers, Peters von Poitiers und des Petrus Lombardus gerichtet, sondern ebenso gegen die mit diesen Methoden assoziierte »Fons Philosophiae« Gottfrieds. In dieser Exilzeit verfasste Gottfried die somit auch als Entgegnung zu Walter zu verstehende Schrift »Microcosmus«.
Nach den einleitenden Worten zu Autor und Werk geht Françoise Gasparri dazu über, die handschriftliche Überlieferung des »Microcosmus« und ihre Editionsprinzipien zu erläutern. Die einzig erhaltenen Textzeugen sind Paris, BnF, lat. 14 881 und 14 515, von Gasparri mit den Siglen G und S versehen. Der Ersteditor Philippe Delhaye nahm 1951 noch an, dass beide Handschriften von einer gemeinsamen Vorlage abstammten, wobei 14 515 die ältere Version sei. Dank dem nun verfügbaren Wissen über viktorinische Buchproduktion und Schreiber wird jedoch klar, dass es sich bei G um einen kompletten Autografen von Gottfried handelt, der einer Werksskizze noch recht nahesteht. Bei S wiederum handelt es sich um eine Abschrift von G, die Korrekturen des unbekannten Kopisten und Gottfrieds enthält. Möglicherweise hätte S Vorlage für eine endgültige Abschrift sein sollen, die aber wohl nie realisiert wurde.
Während Delhaye mal die Lesart von G (bei ihm: B), mal von S (bei ihm: A) übernahm, wählt Gasparri S mit den Korrekturen des Schreibers und Gottfrieds für den Haupttext aus. Indem sie jeder Redaktionsstufe eine Sigle zuweist (G 1, G 2, S 3, S 4, G 5), entsteht ein »genetischer Apparat« (S. 39), der die Werksevolution nachvollziehbar macht. Um ein Beispiel anzuführen: Lib. I, cap. 74 ist mit »Divisio eloquentie per species suas« überschrieben. Durch den Apparat erfährt man, dass in der ersten Version von Gottfried (G 1) und der Kopie (S 3) nur »Divisio eloquentie« stand. Gottfried selbst fügte den Zusatz dann in S ein (G 5).
Des Weiteren vermerkt Gasparri die fehlerhaften Lesarten der editio princeps, um den Editionsfortschritt mit einem Blick erkennbar zu machen. Auf die Einleitung folgen eine Bibliografie zu Gottfried (Quelleneditionen und Literatur), eine Auflistung der für den Quellenapparat verwendeten Editionen und schließlich der edierte Text (verso) mit französischer Übersetzung (recto). Indices für Bibelstellen und Quellen/Parallelstellen bei anderen Autoren beschließen den Band.
Dank Gasparris Editionsmethode können wir Gottfried von St. Viktor gewissermaßen bei der Arbeit über die Schulter blicken. Hochwertige farbige Abbildungen der Autoportraits lassen erahnen, wie der Autor dabei gesehen werden wollte. Alle Vorzüge der glücklichen Überlieferungslage sind nun zwischen zwei Buchdeckeln am heimischen Schreibtisch zu genießen. Die Übersetzung der Editorin vermag es, auch den rhetorischen Schmuck wiederzugeben (vgl. z. B. die gelungenen Übertragungen von S. 52, Z. 9–10 oder S. 74, Z. 15–18) und dabei nah am Text zu bleiben.
Bedauerlich ist, dass die Einordnung des Werks in den historischen Kontext innerhalb der Einleitung etwas holzschnittartig und knapp geraten ist. Inwieweit Gottfried ein »auteur tout différent« im Vergleich zu anderen Viktorinern wie Achard oder Richard (ersterer symbolisiere die Predigtpraxis, zweiter die »prise de conscience de soi« des 12. Jahrhunderts) gewesen sein soll, wird nicht ganz klar (Zitate S. 7f.). Gerade zum besseren Verständnis des »Microcosmus« wäre es auch wünschenswert gewesen, Gasparri hätte sich mit dem Verhältnis zu Bernardus Silvestris’ »Cosmographia/De mundi universitate libri duo sive megacosmus et microcosmus« auseinandergesetzt. Charles Stephen Jaeger etwa sieht Gottfrieds und Bernhards Werke, aber auch den »Anticlaudianus« des Alain von Lille als typisch »humanistische« Werke des 12. Jahrhunderts und stellte die These auf, Gottfried könnte sein Werk komplementär zu dem Bernhards gedacht haben1.
Mitunter scheint sich die Begeisterung der Editorin für den Autor zu sehr Bahn zu brechen, wenn sie mutmaßt, die Predigten Gottfrieds müssten erfolgreich gewesen sein, da sie zu seiner Zeit in einem Band versammelt wurden (S. 14). Dies scheint seine Ursache jedoch weniger in der Beliebtheit der sermones zu haben, als vielmehr in der viktorinischen Praxis der Textüberlieferung. Die Regularkanoniker oder auch die externen Gäste, die im Kapitel predigten, mussten ihre sermones danach schriftlich festhalten2. Auch die Lehre Richards von St. Viktor wurde so für die Nachwelt gesichert: Der in den Handschriften genannte Titel »Liber Exceptionum« für das Corpus aus lectiones und Predigten verweist auf die Mitschrift durch einen exceptor3. Diese Monita fallen jedoch angesichts der beeindruckenden Editions- und Übersetzungsleistung der 241 Kapitel nicht weiter ins Gewicht. Die sorgfältige Textarbeit von Françoise Gasparri wird diesem faszinierenden Œuvre sicher zu größerer Bekanntheit verhelfen und eine reiche wissenschaftliche Auseinandersetzung damit stimulieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Françoise Gasparri (éd.), L’œuvre de Godefroid de Saint-Victor. 1. Le Microcosme (Microcosmus), Turnhout (Brepols) 2020, 516 p., 2 ill. en coul. (Sous la Règle de saint Augustin, 16), ISBN 978-2-503-58561-1, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77197