Der Clm 26 947 ist eine unscheinbare Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts. Er enthält zwei von verschiedenen Händen geschriebene Texte: ein Kalendar mit erläuterter Computus-Tabelle (fol. 1–14) und eine umfangreiche Gottesdienstordnung (fol. 15–235). Beide Texte sind von der Forschung bislang kaum beachtet worden. Allein jenen Passagen der Gottesdienstordnung, in denen eine dramatisierte Osterfeier geschildert wird, hat man verschiedentlich Beachtung geschenkt.

Die nun von David Hiley und Gionata Brusa vorgelegte Edition stellt nicht nur solch selektive Anfragen auf eine wirklich solide Grundlage. Sie erlaubt erstmals auch ganzheitliche Zugriffe auf das historische Material. Als sinnvolle Analyseeinheit erweist sich dabei freilich gerade nicht der gesamte Codex. Denn dessen Textblöcke können erst zu einem späteren, noch nicht näher bestimmten Zeitpunkt zu einem Ganzen zusammengefügt worden sein. Während nämlich die Gottesdienstordnung einst zweifellos die Liturgie des Regensburger Domkapitels regelte, scheint das Kalendar ursprünglich für ein Gotteshaus der Passauer Diözese bestimmt gewesen zu sein (vgl. S. XIII).

Die Gottesdienstordnung setzt bauliche Verhältnisse voraus, die zwischen 1340 und 1380 geherrscht haben dürften (S. XI). Ihr Kompilator hat die liturgischen Normen der Regensburger Domherren mit großer Präzision im Duktus eines liber ordinarius zusammengetragen. Tag für Tag, Hore für Hore informiert der Text also über die Gesänge, Gebete und Lesungen, die beim Stundengebet und in der Messe vorzutragen waren. Die eingestreuten Rubriken erörtern vor allem organisatorische Fragen des Kultus wie den Umgang mit Terminkollisionen oder Ort und Zeit periodisch wiederkehrender Liturgieelemente. Vereinzelt finden sich zudem Erläuterungen zu einzelnen Riten. So sollte etwa ein Exzerpt aus der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus dem Verständnis der alljährlichen Markusprozession dienen (S. 72, Z. 3296–3305). Ganz selten wird auch einmal die Herrichtung des Kultraums geschildert. Dann erfährt man, dass an Himmelfahrt zur Non der gesamte Chor mit Kerzen erleuchtet werden sollte, die in der Lichterkrone und in der Apsis zu entzünden waren (S. 78, Z. 3576).

Der Text der Edition entspricht einer bereits vorab im Internet publizierten »Lesefassung«1. Dementsprechend weitreichend sind die editorischen Eingriffe. Verbessert werden nicht nur Orthografie und Grammatik (nach den Maßstäben des klassischen Lateins), sondern auch die irrtümlichen Gattungsbezeichnungen einzelner Choräle durch den mittelalterlichen Schreiber (vgl. S. XL–LXI). Diese im Vergleich zu anderen Ausgaben von libri ordinarii recht robuste Vorgehensweise droht zwar den Blick auf die Wissensökonomien der mittelalterlichen Akteure zu verstellen. Wer sich für solche Fragen interessiert, wird aber ohnehin lieber mit der digitalen Ausgabe arbeiten; erlaubt diese doch den bequemen Abgleich von gesichertem Text und handschriftlichem Befund.

Den Herausgebern geht es jedoch um ganz andere Fragen. Ihr Ansatz zielt auf die inhaltliche Analyse der liturgischen Vorschriften in komparativer Perspektive. Als Musikwissenschaftler interessieren sich Hiley und Brusa dabei vor allem für das Repertoire der Choräle. Viel Mühe haben sie deshalb auf den Index der Incipits verwandt (S. 145–219). Aber auch Orte, Personen, Funktionsträger sowie Fest-, Sonn- und Ferialtage sind durch Register vorzüglich erschlossen worden.

Die vorgeschalteten Untersuchungen erörtern die Alleluia, die Sequenzen und die Tropen der Messe (S. XXI–XXXIV) sowie die Offiziumsgesänge für die Sonntage im Advent, die ersten Tage der Karwoche, die Marienfeste, Allerheiligen, Kirchweih und die Totenvigilien (S. XXXIV–L). Als Vergleichsquellen dienen vor allem liturgische Rollenbücher,»die entweder direkt oder indirekt den Usus des Bistums Regensburg dokumentieren« (S. XXI).

Unterstützt werden die fleißigen Konkordanzanalysen durch die Edition eines »Breviariums«, das nur in einer um 1800 angefertigten Abschrift überliefert ist (Clm 1482). In diesem hochinteressanten Handbuch kompilierte der Vikar Nicolaus Purchard 1442 auf Bitten des Kapitels die Auflagen und Gratifikationen, die mit dem Vollzug zahlreicher Feststiftungen am Regensburger Hochaltar verbunden waren (S. 227–235).

Zwei weitere einschlägige Zeugnisse werden in dem schwergewichtigen Band indes mit keinem Wort erwähnt: Bei der ersten Quelle handelt es sich um »Auszüge aus dem [...] ausführlichsten Dom-Ordinarius« von vor 1542, auf die Renate Kroos bereits vor zwei Jahrzehnten hingewiesen hat2. Sie liegen in mehreren unpaginierten Faszikeln vor, die im ausgehenden 18. Jahrhundert erstellt wurden und heute im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg gelagert werden (BDK, 10 071).

Die zweite Quelle befindet sich in der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg (Ch 144). Dieser »Ritus chori maioris ecclesiae Ratisponensis« datiert zwar erst aus dem Jahr 1571. Das tut seinem Zeugniswert für mittelalterliche Verhältnisse aber keinen Abbruch. Er verdankt seine Entstehung nämlich dem Versuch, durch systematische Sammlung der althergebrachten Regensburger Sonderbräuche die vollständige Romanisierung der Liturgie infolge des Konzils von Trient abzuwehren. Klaus Gamber hielt eine vollständige Edition des »Ritus chori« deshalb bereits 1979 für wünschenswert3.

Mit ihrem systematischen Vergleich zwischen den Regieanweisungen des ältesten greifbaren Regensburger liber ordinarius einerseits und den vermutlich verwendeten Gesangbüchern der liturgischen Akteure andererseits haben Hiley und Brusa ein Forschungsdesign ersonnen, das methodisch vollends überzeugt. Doch erst wenn auch die anderen beiden genannten Normbücher in kritischen Editionen vorliegen, wird man ernsthaft darangehen können, die Struktur der spätmittelalterlichen Regensburger Kathedralliturgie in ihrer zeitlichen Schichtung zu ermitteln.

2 Renate Kroos, Quellensuche für einen Dom: Beispiel Regensburg, in: Nicolas Bock et al. (Hg.), Kunst und Liturgie im Mittelalter, München 2000 (Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, 33. Beiheft), S. 47–53, hier S. 49.
3 Klaus Gamber, Ecclesia Reginensis. Studien zur Geschichte und Liturgie der Regensburger Kirche im Mittelalter, Regensburg 1979, S. 226.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Tillmann Lohse, Rezension von/compte rendu de: David Hiley, Gionata Brusa (ed.), Der Liber ordinarius der Regensburger Domkirche. Eine textkritische Edition des mittelalterlichen Regelbuchs, Purkersdorf (Verlag Brüder Hollinek) 2020, LXI–332 S. (Codices Manuscripti & Impressi. Zeitschrift für Buchgeschichte. Supplementum, 16), ISSN 0379-3621, EUR 189,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77202