Der Untertitel des Buchs benennt dessen konkrete Thematik, wobei die Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) im Zentrum steht. Dass der Verfasser nach zwei Jahrzehnten kontinuierlich-dichter Forschungs- und Publikationstätigkeit über viele Bereiche des Hussitismus nunmehr in einer eigenen Monografie die Rolle von Franzosen in diesem Kontext untersucht, hat seinen nicht nur in der eigenen Herkunft liegenden guten Grund: Man denke etwa an die Bedeutung eines Jean Gerson, Pierre d’Ailly oder auch der Patriarchen Jean Mauroux und Jean de Rochetaillée für die causa Hus auf der Konstanzer Synode oder an die wesentlich von französischen Vätern wie Gilles Carlier, Philibert de Montjeu und Martin Berruyer getragenen Legationen des Basiliense nach Böhmen seit 1433.
Dabei zeichnete deren Wirken bei allem reformerischen Engagement eine aus der Einsicht in die Unvollkommenheit der Kirche auf Erden erwachsene patience aus, die sie auch – allerdings erst nach wiederholten Niederlagen von Kreuzfahrerheeren – gegenüber den Hussiten an den Tag legten, während die Gegenseite sich von zèle, einem apodiktisch-absoluten Unbedingtheitseifer, leiten ließ, den die Taboriten gar bis zur »cruauté d’une société persécutrice« (S. 298) steigerten. Solche Grundsicht erklärt den »aus sich« nicht unmittelbar verständlichen Obertitel des Buchs, was allerdings erst relativ spät explizit dargelegt wird (S. 298ff.).
Damit trifft der Autor durchaus einen Kern der Dinge, zumal die Bemühungen der an Bodensee und Rhein Versammelten auch generell auf eine Reform der bestehenden Kirche zielten, während die Hussiten eine grundlegend andere anstrebten. (Dem Konstanzer Hustribunal blieb wohlgemerkt, so provozierend-seltsam das für heutige mit der Materie weniger Vertraute klingen mag, nach vielen erfolglosen Vermittlungsbemühungen letztlich keine andere Wahl als der Scheiterhaufen für den nach ihrer Überzeugung uneinsichtig in der Häresie verharrenden Jan Hus, zumal mit seiner Verurteilung ein Exempel auf die kurz zuvor mit »Haec Sancta« dekretierte konziliare Autorität statuiert werden sollte.)
»La patience ou le zèle«, ein Antagonismus, der m. E. aber nicht nur das Verhältnis von Franzosen, gallikanischer Kirche und deren böhmischen Gegenspielern kennzeichnet, sondern hinsichtlich der patience für alle auf den Konzilien diplomatisch wie in Rede und Schrift mit der Materie Befasste gilt; überdies ließ sich ja Basel als Gesamtkonzil auf Verhandlungen mit den Hussiten ein. Das belegt zudem und besonders der zweite Teil des Werks, der die theologisch-ekklesiologischen Grundlagen der Auseinandersetzung nachzeichnet. Hier lässt sich eigentlich kaum ein spezifisches oder gar exklusiv französisches Profil ausmachen, wobei auch Marin selbst die »identité nationale des protagonistes« (S. 19) als vorwaltendes Element in diesem Kontext verneint.
Mit dem Thema haben sich im Übrigen schon etliche Autoren wie etwa der mährische Augustinereremit Augustin A. Neumann, der Hussitismusexperte František M. Bartoš oder der spätere tschechische Außenminister Kamil Krofta in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigt; speziell burgundische Aspekte beleuchtete Yvon Lacaze in einer umfänglichen, 1967 an der École nationale des chartes eingereichten thèse, die leider ungedruckt blieb (vgl. S. 17f.; hierzu erschien vor Kurzem die Frankfurter Dissertation von Eric Burkart über Jean Germain, den bischöflichen Chefunterhändler Herzog Philipps des Guten in Basel, dem ebenfalls ein bereits 2019 erschienener Sammelband von Delphine Lannaud und Jacques Paviot, gewidmet ist1.)
Marin jedoch hat im Vergleich zu den besagten Vorgängern mit der vorliegenden Studie neue und schwerlich zu übertreffende Maßstäbe gesetzt. Alle Facetten des Themas vom frühen Traktat eines Jacques Nouvion (1408) über den vieldiskutierten – und von ihm für authentisch gehaltenen – Brief der Jeanne d’Arc an die Hussiten bis hin zu vereinzelten hussitischen »Infektionen« an den Rändern des Königreichs wie in Tournai oder im oberen Dauphiné werden – unter besagter Konzentration auf die Konstanzer und Basler Synoden – abgehandelt.
Der erste Teil »Le calice et les lys« bietet einen fundierten ereignisgeschichtlichen Überblick (S. 23–175), während der zweite »Guerres de papier?« die theoretische Seite der hussitischen Herausforderung anhand von 14 mit Sicherheit französischen Autoren zuzuschreibenden Texten quellennah thematisiert, in denen sich aber, wie gesagt, kein genuin französisches oder gallikanisches Profil abzeichnet (S. 177–308): »Le bilan est bien maigre« konstatiert Marin selbst (S. 307). Wie wenig beim Kampf der Argumente nationale Faktoren ins Gewicht fielen, zeigt auch die Überlieferungslage: Weitaus die Mehrzahl der vom Verfasser eruierten 84 (!) Handschriften von Gersons Utraquismustraktat stammt nicht aus Frankreich, sondern dem Reich (S. 242, vgl. S. 254), eine Provenienz, die darüber hinaus für 58% aller Manuskripte mit französischen Antihussitismustraktaten gilt. Hinter die Existenz einer eigenständigen »culture hussitologique française« (S. 290, 311 u. ö.) mag man mithin ein Fragezeichen setzen.
Der dritte Teil »La faute des Bohêmes« (S. 309–406) verfolgt, einmal mehr handschriftenbasiert, mit großem Aufwand die wenigen Spuren des Hussitismus in Frankreich, wobei die zeitliche Grenze von ca. 1510 meines Erachtens ohne explizite Begründung gezogen wird. Realiter fällt eigentlich schon mit den Kompaktaten von Iglau 1436 der Vorhang, sieht man einmal von zwei Traktaten des Dominikaners Nicolas Jacquier aus den Jahren 1466/1470 ab, denen der Autor vor einigen Jahren bereits eine eigene Monografie gewidmet hat2. Unerörtert bleibt denn auch, ob sich noch in häretischen Umtrieben im frankophonen Süden der burgundischen Niederlande um 1460 (»Vauderie d’Arras«) hussitische Spuren nachweisen lassen.
»Mit großem Aufwand«: Er spiegelt sich schließlich eindrucksvoll in den folgenden Anhängen und Indices (S. 417–558), die eine stupende Kenntnis der Quellen – samt vieler handschriftlicher und darunter gar manch bislang unbekannter Zeugnisse – ebenso belegen wie eine souveräne Übersicht über die gesamte einschlägige Literatur. Ob tschechische, deutsche oder französische und anglofone Titel, hier findet sich der vollständige Wissensstand zum Thema gesammelt und selbstredend im Text weiterführend verarbeitet.
Marin ist ein veritabler Pontifex, Brückenbauer zwischen okzidentaler und tschechischer Geschichtswissenschaft (wobei eine jüngere tschechische Historikergeneration sich neben dem Deutschen zunehmend des Englischen als lingua franca aus Rezeptionsgründen bedient). Über Petitessen zu mäkeln, wäre da kleinliche Beckmesserei3. Selbst über Jahrzehnte mit der Geschichte der konziliaren Epoche befasst, kann ich zu einer auch unter diesem Aspekt fürwahr habilitablen Leistung nur gratulieren. Allerdings fällt die Lektüre nicht immer leicht: Als Ausländer ist es nicht an mir, sprachlich-stilistische Noten zu verteilen, indes kann ich das entsprechende Urteil einer Rezensentin von Marins – in der Sache nicht minder bedeutender – Monografie aus dem Jahr 2005 »L’archevêque, le maître et le dévot. Genèses du mouvement réformateur pragois (années 1360–1419)« durchaus nachvollziehen: »L’expression est extrêmement soignée – parfois trop, l’A. ayant une affection manifeste pour les formules compassées, le vocabulaire vieilli ou didactique4.«
Doch lohnt letztlich all dieser gelehrte Aufwand angesichts eines Themas, das ja eigentlich nur eine Marginalie in der französischen Geschichte darstellt? Marin stellt in aller Klarheit fest: »Si gallicane qu’elle fût, la France appartenait tout entière à l’orbis catholicus.« Mochte auch die böhmisch-französische Freundschaft seit den Luxemburgern Johann dem Blinden und Karl IV. beschworen werden, nie zeichnete sich jene von Historikern wie František Michálek Bartoš und Josef Macek verfochtene gallikanisch-hussitische Internationale ab, denn jegliche Allianz mit den Häretikern war für den allerchristlichsten König undenkbar, selbst für einen Ludwig XI. mit Georg Podiebrad. Dies erklärt auch, dass in der Darstellung der französische Hof weitaus weniger im Vordergrund steht als die auf den Konzilien mit der Materie befassten französischen Väter, deren Wirken und Werk in diesem Kontext erstmals systematisch erfasst und adäquat gewürdigt wird; in einigen Fällen – so bei Gilles Carlier – handelt es sich gar um eine Pionierstudie. Damit leistet sie des Weiteren einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts und bereichert schließlich – in bester Nachfolge des Œuvres von František Šmahel – die oft mit böhmischer Innenschau beschäftigte Hussitismusforschung um eine internationale Komponente.
Mag das Phänomen Hussitismus für den Gang der Geschichte Frankreichs auch kaum von Belang sein, für die Auseinandersetzung in der Sache waren hingegen Franzosen und insbesondere französische Konzilsväter zu Konstanz und Basel von erheblicher, Mühen und Aufwand des Autors voll rechtfertigender Bedeutung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Olivier Marin, La patience ou le zèle. Les Français devant le hussitisme, années 1400–années 1510, Turnhout (Brepols) 2020, 574 p. (Études augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps modernes, 56), ISBN 978-2-85121-302-0, EUR 72,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77208