Kartografische Zeugnisse, so formulierte es kürzlich Ingrid Baumgärtner, sind als weitaus mehr zu verstehen als »vermessungstechnische[s] Abbild[er] topografischer Realität«1. Spätestens seit dem Aufkommen von »spatial« und »cartographic turn« wird daher den vielfältigen politischen, kulturellen, wissenschafts- und technikgeschichtlichen Dimensionen vormoderner Karten, insbesondere aber den Prozessen des Kartierens und den Kartografen selbst, die Aufmerksamkeit von Mediävistinnen und Mediävisten zuteil. Aufgrund mannigfacher transkultureller Verflechtungen und Austauschprozesse, die häufig mindestens für die Produktion der Karten, ihre Entstehungskontexte oder Schöpfer auszumachen sind, kann das Forschungsfeld wohl per se als eines gelten, das in besonderem Maße transkulturelle Perspektivierungen einfordert und dazu anregt, eurozentrische Sichtweisen zu überwinden.

Mit der hier anzuzeigenden Publikation bereichert Yossef Rapoport (Queen Mary University, London) die Forschung zur vormodernen Kartografie gleichermaßen wie die transkulturell bzw. global orientierte Mediävistik. Als einschlägiger Kenner der islamischen Kartografie, der 2013 das kurz zuvor im Zuge einer spektakulären Entdeckung bekannt gewordene sogenannte »Buch der Merkwürdigkeiten« edierte, legt Rapoport nun eine nicht minder spektakuläre Zusammenschau von sechs islamischen kartografischen Zeugnissen vor, die zwischen dem 9. und 17. Jahrhundert datieren. Die Prämisse des imposanten Streifzugs durch Religions-, Kultur-, Wissenschafts- und Politikgeschichte des Islam bildet zugleich eine Quintessenz des reich bebilderten Bandes im Coffee-Table-Format; sie findet sich am Ende des sechsten Kapitels und begegnet im gesamten Buch, nämlich »dass es weder notwendig noch wünschenswert ist, solche Karten auf die religiösen Überzeugungen ihrer Schöpfer zu reduzieren« (S. 179).

Auf welche Weise an die Zeugnisse vormoderner Kartografie und die Kartografen heranzutreten sei, inwiefern erstere als »Kunstwerke, Produkte der Wissenschaft, der politischen Propaganda und als Ausdruck der Frömmigkeit« (S. 179) zu lesen seien, führt der Autor eindrücklich in sechs Kapiteln vor, in denen er chronologisch jeweils ein kartografisches Zeugnis in den Fokus stellt und mit Blick auf Entstehungskontext, Spezifika und Vergleichsfälle diskutiert.

Den Auftakt macht die älteste überlieferte islamische Karte, die in einem geografischen Buch des in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Bagdad wirkenden Mathematikers al-Khwārizmī enthalten ist. Rapoport charakterisiert es als »Weltbeschreibung eines Mathematikers« (S. 13), der selbst anmerkt, wie viel er der griechischen Astronomie und Geografie des Ptolemäus verdanke. Und so umfasst das Buch größtenteils Tabellen, die Ortsnamen samt ihren geografischen Koordinaten angeben. Am Beispiel der Nilkarte, in welcher die der griechisch-hellenistischen Tradition entstammenden sieben Klimata eingezeichnet sind, erläutert Rapoport den spezifischen mathematischen Blickwinkel al-Khwārizmīs. Dieser hätte es nicht unternommen, eine maßstäbliche Karte zu entwerfen, wenngleich kein Zweifel bestehe, dass er über das notwendige Können verfügt hätte. Dies sensibilisiert für die eigenständigen Entscheidungen, die Kartenmacher in Bezug auf ihre Karten trafen, und damit auch dafür, Karten nicht gleichsam modernisierungsgeschichtlich als Ausweis eines technischen bzw. wissenschaftlichen State of the Art zu deuten. Überliefert ist das Werk in einem einzigen Manuskript des Jahres 1037, und so liegen uns die Karten – dies gilt ebenfalls für die meisten der in diesem Buch besprochenen Exemplare – also nicht aus der Feder al-Khwārizmīs selbst vor, sondern in späterer Abschrift.

Als Gestaltungsprinzipien islamischer Karten setzten sich nach Rapoport sodann nicht mathematische Präzision, sondern Ordnung, Lesbarkeit und Praktikabilität durch, die in Form einer abstrakten, stilisierten Geometrie bildliche Umsetzung fanden. Zeugnis davon legen die Weltkarte und die zwanzig Regionalkarten des dār al-islām des nahezu unbekannten al-Iṣṭhakrī/al-Fārisī ab, in denen der Fokus auf Handels- und Pilgerwegen innerhalb der islamischen Welt, mithin der Einheit und Konnektivität derselben liegt. Eine leichte visuelle Zugänglichkeit des in Kartenform repräsentierten Wissens ebenso wie eine hohe Einprägsamkeit leiteten den Schöpfer der Karten augenscheinlich bei der Ausgestaltung. Rapoport kontextualisiert dies im Hinblick auf den Wandel des Kunstgeschmacks und die Abkehr von einer hellenistischen Ikonografie.

Anders und doch vergleichbar stellen sich die Karten in dem schon erwähnten sogenannten »Buch der Merkwürdigkeiten« dar. Hier dominiert eine »Logik des Wassers« (S. 73), die gemäß Rapoport den politischen Interessen und der Orientierung der Fatimiden als Mittelmeermacht entspreche. Die herrschaftliche Perspektive des anonymen, den Fatimiden wohlgesonnenen Kartografen schenkt indessen religiösen oder städtisch-infrastrukturellen Aspekten kaum Aufmerksamkeit; in wiederum geografisch-stilisierter Art werden Macht und Wehrhaftigkeit ins Bild gesetzt.

Nachweislich herrscherlich initiiert sind die Karten des wohl prominentesten islamischen Kartografen al-Idrīsī, der Mitte des 12. Jahrhunderts am multireligiösen Normannenhof Rogers II. auf Sizilien wirkte. Sein ehrgeiziges kartografisches Vorhaben stellt eine exzeptionelle kulturelle Syntheseleistung dar und sucht nach Rapoport mindestens in der islamischen Vormoderne seinesgleichen. So bestand das Ziel in nichts Geringerem als der Kartierung der gesamten bekannten Welt, wobei Rapoport vor allem die Methode der Unterteilung in Rechtecke eines imaginierten Gitternetzes und die umfassende Rezeption antiker, islamischer sowie christlicher Werke sowie eigens in Gesprächen gesammelter Informationen als neuartig bewertet. Es sprechen keine religiösen Herrschaftsansprüche aus den Karten, erstaunlicherweise seien allein Rom und die päpstliche Autorität eingehender thematisiert.

Die beiden verbleibenden kartografischen Zeugnisse belegen gleichermaßen intensive transkulturelle Austauschprozesse und stehen doch exemplarisch für zwei konträre kartografische Wirkungskontexte. Die umfassende kartografische Sammlung des osmanischen Admirals Pīrī Re’īs, Zeitgenosse beispielsweise von Fernando Magellan und Vasco da Gama, lässt anschaulich die Aneignung der portugiesischen und katalanischen Portolane – maßgeblich basierend auf der wegweisenden Erfindung des Magnetkompasses –, italienischer isolarii-Bücher und Stadtansichten sowie antiker und mittelalterlicher kartografischer Traditionen erkennen. Nach Rapoport seien diese durchsetzt von eigenen Erfahrungen, die Pīrī Re’īs als Kapitän im Mittelmeer und im Indischen Ozean gesammelt hatte. Seine Weltkarte zeugt von dem rasanten Zuwachs technisch-wissenschaftlicher Präzision und von Wissen um die Welt. Ihre Nutzung zeugt von Pragmatismus und den Bestrebungen der Osmanen: »Die Abschnitte über den Indischen Ozean [...] wurden einer praktischen Verwendung zugeführt« (S. 149).

Das im sechsten Kapitel präsentierte Astrolab des safawidischen Schahs ‘Abbās II. von 1647/1648 bietet zuletzt Anlass, die islamische Gebetsrichtung zur Kaaba in Mekka (arab. qibla) und ihre Bestimmung bis zur Frühen Neuzeit zu historisieren. Die safawidischen Astrolabien zeichneten sich dadurch aus, dass sie mithilfe des Sonnenstands die Bestimmung der Qibla ermöglichten. Sie stünden paradigmatisch für eine rationalistische Strömung des schiitischen Islam, die die Wissenschaft in den Dienst der Religion stellte. Ihre Verschmelzung stand im safawidischen Isfahan im Zenit.

Obgleich Mekka als religiöses Zentrum des Islam in den Astrolabien eine zentrale Position einnahm, der raumkonstruierende Charakter von Karten hierbei also evident wird, zeigt die Mehrzahl islamischer vormoderner Karten die Tendenz, »theologische Erzählung und kartografische Wiedergabe zu trennen« (S. 178). Vielmehr, so demonstriert der Band, setzten sie politische Macht, die Einheit des dār al-islām oder (human-)geografisches Wissen ins Bild. Die Gestaltungsprinzipien variierten dabei je nach Interessen und Anliegen der Kartenzeichner, mithin der intendierten Funktion. Rapoport gelingt es aufzuzeigen, welch hohen Quellenwert vormoderne kartografische Zeugnisse besitzen, und führt die Bandbreite an Fragen vor, die gewinnbringend an diese gestellt werden können. Er verweist mehrfach auf aktuelle Forschungen und erweitert das Panorama des Bandes durch zahlreiche komparative Exkurse. Er löst ein, was er der Leserin bzw. dem Leser beim Aufschlagen des Bandes verspricht: einen anderen Blick auf die Welt.

1 Ingrid Baumgärtner, Das Heilige Land kartieren und beherrschen, in: id., Martina Stercken (Hg.), Herrschaft verorten. Politische Kartographie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Zürich 2012, S. 28.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sandra Schieweck, Rezension von/compte rendu de: Yossef Rapoport, Islamische Karten. Der andere Blick auf die Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Jörg Fündling, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2020, 191 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-534-27205-1, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77213