Dass Arbeit und Konsum in den Lebenswelten des 20. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung zukam, ist in der Geschichtswissenschaft schon beinahe eine Binsenweisheit. Dementsprechend groß ist der Raum, den die jeweiligen Forschungszweige innerhalb der Disziplin einnehmen1. Die getrennte Untersuchung der beiden Phänomene hat aber auch dazu geführt, dass sich parallele Narrative entwickelt haben, die entweder die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft oder der Konsumgesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Weniger eindeutig geklärt ist dagegen die Frage, wie sich die beiden Bereiche zueinander verhalten2.

Hier setzt Peter-Paul Bänziger mit seiner Habilitationsschrift zu Arbeit und Konsum im deutschsprachigen Raum an. Sein Ziel ist eine Zusammenführung der beiden separaten Erzählungen in einer »Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft«. In Abgrenzung von älteren Phasenmodellen, in denen eine Arbeitsgesellschaft (ab ca. den 1870er-Jahren) in der Trente Glorieuses von der Konsumgesellschaft abgelöst wurde, geht er davon aus, dass »die Komplementarität von produktionsorientierter Arbeit und konsumorientiertem Vergnügen« (S. 13) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen habe. Das ursprünglich ältere Begriffspaar Konsum und Arbeit sei um 1900 zu einer Leitdifferenz für zahlreiche Gesellschaftsbereiche geworden und habe auch zunehmend die »Selbstverhältnisse« der Zeitgenossen geprägt. In Anlehnung an Andreas Reckwitz’ Konzept der Subjektkultur3 meint er damit die Kombination aus aktiv rezipierten Leitvorstellungen und Identifikationsangeboten sowie impliziten, nicht aktiv thematisierten Skripten und Handlungsroutinen, »über die kulturelle Codes unser Tun, Fühlen und Denken grundlegend strukturieren« (S. 13).

Diesem subjektkulturellen Wandel spürt Bänziger vor allem in Egodokumenten nach. Seinen zentralen Quellenbestand bilden Tagebücher von rund 110 Diaristinnen und Diaristen aus dem Zeitraum 1840–1940, die er seriell ausgewertet und durch persönliche Korrespondenz der Tagebuchschreibenden ergänzt hat. Für die normativen Kontexte wurden zudem zeitgenössische Druckerzeugnisse – vor allem Zeitschriften – hinzugezogen. Bei der Auswahl der Quellen sind jedoch einige Ungleichgewichte festzustellen: Während Bänziger für das 20. Jahrhundert auf eine breit gefächerte Quellengrundlage zurückgreifen kann, stammen nur 33 Tagebücher aus der Zeit vor 1900, 25 davon sind zudem dem Bürgertum zuzuordnen. Des Weiteren konzentriert sich die Auswahl der Tagebücher auf die Schriften Jugendlicher und junger Erwachsener (13 bis 31 Jahre). Diese Einschränkungen werden zwar in der Einleitung reflektiert, dennoch kommt bei der Lektüre verschiedentlich die Frage auf, welche Reichweite die aufgestellten Thesen haben.

Die Argumentation der Studie entfaltet sich in sechs Kapiteln, von denen jeweils drei den Zeitraum vor beziehungsweise nach 1900 abdecken. Das erste Kapitel untersucht die Familie als Gefühls- und Wirtschaftsgemeinschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schichtübergreifend den zentralen Bezugspunkt für persönliche Lebensentwürfe bildete. Das zweite Kapitel fokussiert auf die Orientierungen innerhalb des Bürgertums. Eine Unterscheidung in Arbeit und Freizeit sei hier noch nicht zu beobachten. Bänziger arbeitet anschaulich heraus, dass vor allem Ideale von Arbeitsamkeit und Mäßigung – nicht die von der Bürgertumsforschung betonte individuelle Leistung – unabhängig vom Lebensbereich prägend gewesen seien.

Kapitel drei wendet sich den »Arbeitsbegriffen der Unterklassen« (S. 137) zu. Hier widerspricht Bänziger energisch der Theorie der Verbürgerlichung: Die Diffusion bürgerlicher Wertvorstellungen in andere Schichten sei maximal bei Hausbediensteten in begrenztem Ausmaß nachweisbar. Vor allem im Handwerk und in der Arbeiterschaft seien eigene, stärker erfolgsorientierte Vorstellungen eines »Produktionsethos« entstanden, die auf älteren Formen handwerklichen Produktstolzes basierten. Hier sieht er auch die Anfänge eines neuen Effizienz- und Produktivitätsdenkens, das nach 1900 die neue Subjektkultur der Konsum- und Arbeitsgesellschaft prägte.

Das vierte Kapitel legt die Orientierungsrahmen dieser neuen Konsum- und Arbeitsgesellschaft dar. Auch hier argumentiert Bänziger schlüssig, dass die neuen Einstellungen gegenüber Arbeit und Vergnügen nicht aus dem Bürgertum in andere Schichten diffundierten, sondern in einer Kombination von Ausdifferenzierung und Transformation entstanden. In diesem Prozess seien Familie, Nation und Betrieb zu neuen Orientierungsrahmen geworden, die neue, stärker individualistisch geprägte Vorstellungen von Leistung und Vergnügen eingehegt hätten.

Kapitel 5 beschreibt die Erlebnisorientierung als neue übergreifende Orientierung für Arbeit und Vergnügen. Darunter versteht Bänziger in Anlehnung an Gerhard Schulze4 die »Ästhetisierung des Lebens durch eine generelle Orientierung an Glück, Vergnügen und Genuss«, in der emotionale Qualität, Intensität und Abwechslung die Bewertung des Alltags prägten. In Bezug auf das Freizeitverhalten ist diese These zwar nicht neu, Peter-Paul Bänziger gelingt aber eine wertvolle und schlüssig belegte Systematisierung und Erweiterung5.

Im sechsten Kapitel arbeitet er die neue Erlebnisorientierung am Medium des Tagebuchs selbst heraus. Hier beobachtet er eine tendenzielle Ablösung des biographischen Tagebuchs des 19. Jahrhunderts durch das »Erlebnistagebuch«: Statt Selbstreflexion stand der emotional und persönlich gestaltete Bericht des Erlebten im Vordergrund, der zunehmend durch Zeichnungen, Fotos und Erinnerungsstücke ergänzt wurde – das Schreiben wurde selbst zu einer »Praktik der Erlebnisproduktion« (S. 368).

Positiv hervorzuheben ist die Zugänglichkeit der Studie: Die explizite Bezugnahme auf aktuelle Forschung, die Zuspitzung auf klare Thesen sowie die Dichte und Anschaulichkeit der gewählten Quellenbeispiele sorgen für eine gute Lesbarkeit auch für Laien. Kritisch ist eine gewisse Dominanz des Bürgertums als Bezugspunkt der Ausführungen zu erwähnen, was sich allerdings aus dem Quellenkorpus heraus erklären lässt. Dies schmälert den Wert der Studie aber keinesfalls: Die gemeinsame Betrachtung von Konsum und Arbeit erweist sich als gewinnbringende Ergänzung der Forschungslandschaft. Der große Mehrwert liegt im systematischen Blick, der bestehende Erkenntnisse aus der Forschung zu Arbeit und Konsum/Freizeit nicht nur zusammenführt, sondern auch erweitert und empirisch unterfüttert. So liefert die Studie eine erkenntnisfördernde Perspektive auf die gesellschaftlichen Transformationen der Jahrzehnte um 1900, die hoffentlich in Zukunft weiter ergänzt werden wird.

1 Siehe jüngst etwa Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2018; sowie Jürgen Kocka, Jürgen Schmidt (Hg.), Themenheft „Arbeit und Kapitalismus“, Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 43/2 (2017).
2 Oliver Kühschelm, produzieren/konsumieren – prosumieren/konduzieren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 30/1 (2019), S. 7–19.
3 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.
4 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992.
5 Siehe dazu etwa die Beiträge der Sammelbände: Paul Nolte (Hg.), Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke (1880–1930), Köln, Weimar, Wien 2016; Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2014.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sebastian Petznick, Rezension von/compte rendu de: Peter-Paul Bänziger, Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen (Wallstein) 2020, 456 S., 17 Abb., ISBN 978-3-8353-3646-9, EUR 34,90., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77256