Belgien besitzt drei Nationalsprachen (Niederländisch, Französisch und Deutsch), zerfällt in zwei große (Flandern und Wallonien) sowie zwei kleine (Brüssel und das deutschsprachige Ostbelgien) Kulturräume und befindet sich seit Jahrzehnten in einem aufreibenden Prozess, der durch das Zusammenspiel eines nachhaltigen ökonomischen Strukturwandels und einer kulturregionalistisch motivierten politischen Konfrontation zwischen den beiden großen Volksgruppen der Flamen und Wallonen bestimmt ist. Im Ausland wird Belgien ob der anhaltenden politischen Lähmung und regelmäßiger Skandale vereinfacht gern als von Bonvivants bewohnter »failed state« charakterisiert.

In der Binnenwahrnehmung ist das Land durch einen bisweilen destruktiven, bisweilen bereichernden Pluralismus auf allen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Ebenen bestimmt. Historisch bedingte Beharrungskräfte, manifestiert in überkommenen politischen und wirtschaftlichen aber auch sozialstaatlichen Strukturen, stehen im tagtäglichen Widerstreit zu dynamischen Veränderungsprozessen, die durch Migrationsbewegungen, die Folgen der Globalisierung für die traditionell auf den Außen- und Transithandel orientierten Volkswirtschaft und einen Reformhunger der Bürger in Bezug auf Entbürokratisierung und Entflechtung verkrusteter administrativer und politischer Entscheidungs- und Regierungsstrukturen bestimmt werden.

Philippe Destatte, Hochschullehrer in Mons und Direktor des wallonischen Thinktanks Institut Destrée in Namur, möchte mit seinem nur rund 190 Seiten starken Band eine kurze Geschichte Belgiens vorlegen, die drei Ziele hat. Erstens sollen die großen historischen Entwicklungslinien zum Verständnis der heutigen Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen Belgiens aufgezeigt, zweitens die zentralen Einflussfaktoren und Akteure dieser historischen Entwicklung identifiziert und drittens Kontinuitäten und Brüche der gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklung des Landes, eingeordnet in den europäischen und globalen Kontext, dargestellt werden (S. 15). Um es vorweg zu nehmen, der Band scheitert an diesem großen Anspruch und er scheitert aus verschiedenen Gründen.

Die Struktur der Darstellung ist noch unproblematisch. Sein Werk hat Destatte in zwei Hauptteile mit zwölf Hauptkapitel gegliedert: Sechs Kapitel widmen sich den Brüchen des langen 19. Jahrhunderts und sechs Kapitel den großen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. In der Binnengliederung hebt Destatte die Chronologie auf und wählt einen thematischen Ansatz. So befassen sich die ersten sechs Kapitel mit der Industriellen Revolution, der belgischen Staatsgründung 1830, der sozialen Frage, den nationalen politischen Binnenkonflikten, der Entwicklung der politischen Parteien und dem Ersten Weltkrieg. Die sechs Kapitel zum 20. Jahrhundert umfassen je eine Abhandlung zur Demokratisierung des belgischen Parlamentarismus und des Wahlsystems nach dem Ersten Weltkrieg, zur belgischen Außenpolitik und deren Einbettung in den Multilateralismus, der staatlichen Evolution vom Einheits- zum Bundesstaat seit 1960, den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in der Moderne, der Rolle der Frau in der Gesellschaft und einem Abschnitt, den Destatte mit »Le profond malaise citoyen« überschrieben hat, und der die bereits erwähnten innergesellschaftlichen Gärungsprozesse vor allem Anhand von politischen Skandalen und Affären in den Blick nimmt. Das Fazit präsentiert keine Zusammenfassung sondern etwas in der Luft stehende Thesen zu möglichen künftigen Brüchen, wie dem Ende einer primär kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder dem demographischen Wandel.

Die einzelnen Beiträge selbst sind je nach Fragestellung teilweise durchaus lesenswert. Als Beispiel sei das genannte Kapitel über die Malaise der belgischen Gesellschaft herausgegriffen. Anschaulich schildert Destatte, dass etwa die bis heute unaufgeklärte Raub- und Mordserie der sogenannten Killerbande von Brabant in den 1980er-Jahren, die linksextremistischen Terrorakte der Kommunistischen Kampfzellen (CCC) 1983–1985, die Korruptionsaffäre um Rüstungskäufe im Augusta-Dassault-Skandal, die in der Ermordung des sozialistischen Parteipräsidenten André Cools 1991 gipfelte oder der Skandal um das Pädophilen-Netzwerk des Marc Dutroux Mitte der 1990er-Jahre in Belgien eine tiefe Verunsicherung in Bezug auf die Integrität des politischen, juristischen und administrativen Apparats schürte.

So wurde die Auffassung vieler Belgier zementiert, dass Singularinteressen einflussreicher Politiker, Gewerkschafter und Wirtschaftsführer – kurz eines über Generationen auch familiär verflochtenen Herrschaftsestablishments den Staat ausgehöhlt und zu einem Selbstbedienungsladen (»l’esprit de boutique«, S. 186) gemacht haben. Während das Kapitel in seiner Darstellung überzeugen kann, auch weil Destatte in ihm, im Gegensatz zu den meisten anderen, darauf verzichtet, teilweise über die Hälfte der Seite einnehmende wörtliche Zitate aus anderen Werken der Sekundärliteratur sowie seltener aus Quellen aneinander zu reihen, zeigt es auch die Schwäche in der Analyse auf.

Die Leserin bzw. der Leser erfährt nicht, warum Destatte seine Beispiele wählt und warum er auf andere, auch thematisch pluralere Skandale, wie den große Lebensmittelskandal um mit Dioxin belastete Eier 1999, der in zehntausenden Fällen zu Krebserkrankungen führte, die anhaltenden Korruptionsskandale in der sozialistischen Partei der Wallonie oder die starken Verbindungen belgischer Staatsbürger in den internationalen islamischen Terrorismus verzichtet. Es gelingt ihm auch nicht, seine Fallanalyse zu einer abstrakten These zu verdichten oder in Bezug zu den in den anderen Kapitel gewonnen Feststellungen zu setzen.

Dass es Destatte hier wie an vielen anderen Stellen des Buches nicht gelingt, klare und analytisch scharfe rote Linien zu ziehen, liegt vor allem an drei Schwächen des Buches. Die angekündigte globalhistorische Verzahnung misslingt. Am deutlichsten wird dies, wenn Destatte sich dafür entschuldigt, dass ein dreizehntes Kapitel zur Bedeutung der belgischen Kolonialpolitik (noch) fehlen würde. Das bewusste Ausblenden der kolonialen und auch postkolonialen Phänomene in Belgien führt zu einer mehr als bedauerlichen Lücke.

Zudem gelingt es Destatte nicht, seine wallonische Brille abzulegen, wenn er als anerkannter Experte etwa im Kapitel über die sprach- und kulturpolitischen Konflikte des 19. Jahrhunderts sechs Seiten der wallonischen Nationalbewegung widmet, der flämischen Nationalbewegung als Keimzelle der heute mit Abstand wichtigsten politischen Strömung in Flandern gerade einmal eine halbe Seite gönnt. Dieses permanente Ungleichgewicht zu Gunsten des kleineren wallonischen Landesteils zeigt sich auch im Literaturverzeichnis, in dem man die auf Niederländisch verfassten Werke unter den hunderten Titeln an einer Hand abzählen kann.

Schließlich übersetzt Destatte seine großen Leitfragen nicht in eine kontinuierliche Methodik oder eine einheitliche Analyseperspektive, weswegen die Einzelschilderungen und Beispiele unverbunden bleiben und kein großes Bild des kleinen Landes entstehen kann.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Quadflieg, Rezension von/compte rendu de: Phillipe Destatte, Histoire de la Belgique contemporaine. Société et institutions, Bruxelles (Larcier) 2019, 218 p., nombr. col. fig., ISBN 978-2-8044-9584-8, EUR 85,00., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77263