In den aktuellen Debatten um den richtigen Umgang mit dem populistischen Nationalismus in Deutschland wird bei historischen Bezugnahmen erstaunlich selten danach gefragt, wie in den Jahren ab 1930 eigentlich auf den Aufstieg des Nationalsozialismus reagiert wurde1. Die hier besprochenen ersten drei Publikationen eines sechsbändigen Projekts über politische und intellektuelle »Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus« im deutsch- und französischsprachigen Europa zwischen 1919 und 1949 liefern zu diesem Untersuchungsgegenstand umfassendes und multiperspektivisches Anschauungsmaterial. Die gesamte Reihe behandelt »(1) Historiografie und öffentliche Meinung, (2) das liberale Spektrum und die Europaanhänger, (3) das linke Spektrum, (4) das rechte Spektrum2, (5) christliche und jüdische Stimmen und (6) intellektuelle Auseinandersetzungen«.

Band 1 enthält außerdem drei Auswahlbibliografien zur zeitgenössischen Rezeption des NS, also von den 1920er- zu den 1940er-Jahren. In der Gesamtschau soll ein Eindruck von der »Vielfalt der Meinungen und des Wissens über den Nationalsozialismus in seiner Epoche«, in der Opposition und an der Macht vermittelt werden. In einer »komparatistischen Perspektive« soll aufgezeigt werden, »wie sich Publizisten, Akademiker und Intellektuelle positionierten und wie sie gegebenenfalls (inter)agierten« (Bd. 1, S. 25f.).

Mit Gewinn gelesen werden können die Beiträge jedoch nicht nur von Forscherinnen und Forschern, die sich dafür interessieren, wie »der Nationalsozialismus« zeitgenössisch gedeutet wurde und welche Umgangsweisen sich aus diesen Interpretationen ergaben. Von Interesse sind viele der Beiträge auch deshalb, weil sie Auskunft geben über die frühen, transnationalen Debatten um Faschismus, Totalitarismus und (»völkischen«) Rassismus, waren dies doch die zirkulierenden und miteinander konkurrierenden Deutungsangebote.

Eine Fundgrube sind die Bände aber auch für die historische Nationalismusforschung, denn viele Zeitgenossen sahen in der NSDAP und im »Dritten Reich« auch und vor allem Produkte eines politischen und bewegungsförmig organisierten Rechtsnationalismus, der sich im späten 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern zum Beispiel auch in Frankreich herausgebildet hatte, wo Charles Maurras den Begriff des »nationalisme intégral« prägte3. Auf den zuletzt genannten Aspekt wird im Folgenden der Schwerpunkt gelegt, was mit sich bringt, dass diese Besprechung leider nur einen Bruchteil der Beiträge würdigen kann.

Nimmt man zunächst in den Blick, wie über die NSDAP geschrieben wurde, als diese noch eine Splitterpartei war (was im Ausland sehr selten geschah und auch im Reich nicht die Regel darstellte, weil andere Bestandteile des »nationalen« Lagers als wichtiger galten), fällt eine Häufung von Beiträgen auf, die den NS durch eine nationalismuskritische Linse betrachteten. So erkannte beispielsweise die ehemals sozialistische und seit 1923 kommunistische Zeitung »L’Humanité«sehr früh, wie geschickt die Nazis das nationalistische Vorgehen französischer Truppen im Ruhrgebiet für ihre eigene nationalistische Propaganda ausschlachteten: »Pour ouvrir, sous le manteau de la défense nationale et de la lutte contre l’invasion de la Ruhr et contre le traité de Versailles la guerre contre la classe ouvrière et proclamer la dictature fasciste« (zit. nach Eva Zimmermann, Zum frühen Bild des Nationalsozialismus in der französischen Tagespresse, Bd. 1, S. 180).

Der Weg in den Faschismus führte dieser Lesart zufolge nicht zuletzt über die Anrufung »nationaler Einheit«. Systematisiert wurde die Analyse nationalistischer NS-Propaganda von Georg Bernhard in seinem Buch »Die deutsche Tragödie: Der Selbstmord einer Republik« (1933). Susanne Wein zufolge taucht der Begriff »nationalistische Agitation« in der Analyse des nach Prag geflüchteten Liberaldemokraten »sicherlich Hundertmal auf« (Bd. 2, S. 66). Auf andere Weise bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch Theodor Heuss’ im Jahr 1931 erschienenes Buch »Hitlers Weg«, dem Werner Treß einen Beitrag widmet. Den Antisemitismus der NSDAP markierte der spätere Bundespräsident schon damals als nationale Schande – also als etwas, das das nationale Kollektiv nicht als etwas von sich weisen könne, das es nichts angehe: »Die Zerstörung jüdischer Friedhöfe muss eine Gemeinschaft tief treffen, [...] sie beschmutzt uns alle. Wir tragen einen Fleck an uns herum, seit in Deutschland solches, feig und ehrfurchtlos, möglich wurde« (Bd. 2, S. 34).

Auch die in der Summe ungleich zahlreicheren Beiträge zum Nationalsozialismus an der Macht sind in dieser Hinsicht instruktiv. So argumentiert Axel Schildt in seinem Beitrag über die NS-Analysen des liberalen Publizisten Leopold Schwarzschild im »Tage-Buch« und »Neuen Tage-Buch«, dass diesem »der Nationalismus« anscheinend »so fern lag, dass er ihn als mobilisierende Ressource des NS-Regimes nicht einmal kritisch wahrnahm« (Bd. 2, S. 55). Eine andere mögliche Interpretation wäre, dass Schwarzschild die von dem Nationalismus der Nationalsozialisten ausgehende Gefahr auch deshalb unterschätzte, weil in der Weimarer Republik offen nationalistische Parolen auch im demokratischen Lager verbreitet waren und anders als Georg Bernhard nur wenige Liberale eine Nationalismuskritik entwickelten.

Bezeichnend ist auch eine Bemerkung des 1933 vertriebenen liberalen Publizisten Rudolf Olden, wonach etwa der »Nationalist« Ernst Jünger und der im Reich gebliebene Liberale Friedrich Meinecke das NS-Regime nicht qualifiziert analysieren könnten (Jens Flemming, Rudolf Olden über Hindenburg, Hitler und die deutsche Geschichte, Bd. 2, S. 73). Die von Hans Manfred Bock untersuchten französischen Personalisten aus dem Umfeld der Zeitschrift »Esprit« wiederum verband mit den Nationalsozialisten zwar ihr Antimodernismus, nicht jedoch ihre »antietatistischen, antinationalistischen und antitotalitären Prämissen« (Bd. 2, S. 152), weshalb die Verbindungen zwischen beiden ephemer blieben. Als nationalistisches Regime analysiert wurde die 1933 errichtete »nationale Diktatur« in Frankreich von dem sozialistischen Journalisten Pierre Brossolette: Auch wenn seine Friedenspropaganda etwas anderes behaupte, sei das NS-Regime im Kern doch »foncièrement nationaliste, conservateur et capitaliste« (zit. nach Jean-René Maillot, Pierre Brossolette face au national-socialisme, Bd. 3, S. 54), weshalb die von Hitler geforderte Remilitarisierung des Reiches unbedingt verhindert werden müsse. Der in Österreich geborene sozialistische Theoretiker und Politiker Rudolf Hilferding sah in der NSDAP eine nationalistische »Sammlungsbewegung«, die »Deklassierte« aller Klassen in sich aufnahm und »den Nationalismus [...] in seiner gefährlichsten Form als Befreiungsideologie wie 1813 und als Revanchegedanken wieder aufs Neue gesteigert« habe (zit. nach Bernd Zielinski, Rudolf Hilferdings Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bd. 2, S. 81).

Eine nationalismusgeschichtliche Lektüre der Beiträge ist zuletzt auch bei jenen Autorinnen und Autoren lohnend, die sich mit der Zeit nach dem Nationalsozialismus beschäftigen – mit der Besatzungsperiode und der zeithistorischen NS-Forschung. So zeigt Dominique Herbet, dass die von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebene »Neue Zeitung« weniger eine Wiederkehr des Nazismus fürchtete als die eines Nationalismus in anderer Form. In einem internen Bericht der Redaktion vom Dezember 1948 ist von einem »acroissement important du sentiment nationaliste chez les Allemands« die Rede (Bd. 1, S. 226).

Wie der Beitrag von Letizia Haas über den frühen »Spiegel« der Jahre 1947 bis 1949 zeigt, lieferte zur gleichen Zeit das in der britischen Zone erscheinende »deutsche Nachrichtenmagazin« eine Deutung des Nationalsozialismus, die insofern Teil dieses neuen Nationalismus war, als hier frühere NS-Funktionseliten wie der erste Gestapo-Chef Rudolf Diels selbst »erklären« durften, wie es ihrer Ansicht nach zu »1933« gekommen war. In der Regel lief dies darauf hinaus, dass eine kriminelle Clique um Hitler verantwortlich gemacht wurde – eine »outlaw theory«, die auch viele Briten und Amerikaner teilten, die mit den NS-Funktionseliten wirtschaftlich oder militärisch kooperieren wollten.

Die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in den jeweiligen Nachkriegshistoriografien, denen sich Reiner Marcowitz (Bundesrepublik), Cornelius Lehnguth (Österreich), Christine Späti (Schweiz), Olivier Dard (Frankreich) und Christoph Brüll (Belgien) widmen, können vor diesem Hintergrund auch als Form des Nation-Buildings nach der Erschütterung der europäischen Nationalstaaten durch den Nationalsozialismus und seine Besatzungspolitik interpretiert werden – als »Verortung der Nation« angesichts einer nicht nur in Deutschland »belasteten Vergangenheit« (Ulrich Pfeil, Wes heißt und zu welchem Zweck vergleicht man nationale Historiografien?, Bd. 1, S. 147). Bedauerlich ist indes, dass es zwar einen anregenden Artikel von Hans Manfred Bock über »Totalitarismus- und Faschismus-Debatten in Deutschland und Frankreich« gibt, aber keinen eigenen Beitrag zur DDR-Historiografie, die im Gegensatz zu ihrem westdeutschen Pendant immerhin eine durchaus lesenswerte Geschichte der NSDAP hervorgebracht hat4.

Als Zwischenfazit nach drei Bänden lässt sich formulieren, dass Michel Grunewald, Olivier Dard und Uwe Puschner eine aus vielen Blickwinkeln lesenswerte Reihe konzipiert haben, die vor Augen führt, dass die Deutung des Nationalsozialismus als Faschismus, Totalitarismus, Rassismus oder Nationalismus zeitgenössisch vielleicht weniger von der Nationalität der Beobachtenden abhing als von ihrer politischen Haltung. Wünschenswert wäre ein siebter Syntheseband, der die momentan noch recht unverbunden nebeneinander stehenden Perspektiven auf den Nationalsozialismus vergleichend zusammenführt.

1 Vgl. etwa Andreas Wirsching, Berthold Kohler, Ulrich Wilhelm (Hg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Ditzingen 2018.
2 Der vierte Band der Reihe erschien zum Zeitpunkt der Publikation dieser Besprechung: Michel Grundwald, Olivier Dard (Hg.), Confrontations au national-socialisme dans l‘Europe francophone et germanophone (1919–1949)/Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus im deutsch- und französischsprachigen Europa (1919–1949), vol. 4: Conservateurs, nationalistes, anciens nationaux-socialistes/Bd. 4: Konservative, Nationalisten, ehemalige Nationalsozialisten, Brüssel u. a. 2020 (Convergences, 100).
3 Vgl. Dominik Rigoll, Yves Müller, Zeitgeschichte des Nationalismus. Für eine Historisierung von Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus als politische Nationalismen, in: Archiv für Sozialgeschichte 60 (2020), (im Druck).
4 Kurt Pätzold, Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920–1945, Köln 2002 (Erstausgabe Köln 1981; sowie u. d. T. »Hakenkreuz und Totenkopf. Die Partei des Verbrechens« Berlin (Ost) 1982).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dominik Rigoll, Rezension von/compte rendu de: Olivier Dard, Michel Grunewald, Reiner Marcowitz, Uwe Puschner (dir.), Confrontations au national-socialisme en Europe francophone et germanophone (1919–1949)/Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus im deutsch- und französischsprachigen Europa (1919–1949. Vol. 1: Introduction générale – Savoirs et opinions publiques/Bd. 1: Allgemeine historische und methodische Grundlagen, Bruxelles et al. (Peter Lang) 2017, 388 p., 17 ill. (Convergences, 88), ISBN 978-2-8076-0299-1, CHF 65,00; Vol. 2: Les libéraux, modérés et européistes/Bd. 2: Die Liberalen, Modérés und Proeuropäer, Bruxelles et al. (Peter Lang) 2018, 258 p. (Convergences, 93), ISBN 978-2-8076-0576-3, CHF 63,00; Vol. 3: Les gauches face au national-socialisme/Band 3: Die Linke und der Nationalsozialismus, Bruxelles et al. (Peter Lang) 2019, 264 p., 2 ill. en n/b (Convergences, 97), ISBN 978-2-8076-0877-1, CHF 60,00., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77265