Der Berliner Historiker Fritz Hartung (1883–1967) ist heute wenig bekannt, obwohl er in der deutschen Historikerzunft einige Jahrzehnte lang zu den einflussreichen Gelehrten gehörte. Als Inhaber eines Neuzeit-Lehrstuhls an der Berliner Universität, in wichtigen Jahren auch als Dekan der damals sehr großen Philosophischen Fakultät – denn noch gehörten die Naturwissenschaften dazu – und später als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften übte er bei Konflikten und Berufungen häufig eine Schlüssel- oder wenigstens eine Vermittlerrolle aus. Er war zwar ein Schüler von Otto Hintze und auch von Gustav Schmoller, führte in den eigenen Arbeiten aber weniger deren sozialwissenschaftliche Fragestellungen fort als die Tradition einer nationalen Staats- und Institutionengeschichte, von der frühen Neuzeit bis in die Zeitgeschichte. Aufgrund glücklicher akademischer Umstände und wohl auch Dank seiner tadellosen national-konservativen Haltung gelangte er schon 1922 auf den Lehrstuhl seines Lehrers Hintze, mit dessen soziologischen Fragestellungen er freilich ebenso wenig anzufangen wusste wie mit den subtilen ideengeschichtlichen Wanderungen eines Friedrich Meinecke. Stattdessen widmete er sich in der Hauptsache Überblickswerken zur politischen und Verfassungsgeschichte, die in immer neuen Auflagen für Generationen von Studenten zu Lehrbüchern wurden.
Man könnte daher meinen, dass man es hier mit einem angepassten, eher trockenen Ordinarius zu tun hat, der gleichsam in der zweiten Reihe alle Stürme überstand. Politisch mag das insofern zutreffen, als Hartung sich mit der Weimarer Demokratie – im Unterschied zu Hintze oder Meinecke – nie hat anfreunden können. Auch antisemitische Vorurteile – nicht zuletzt gegenüber Hintzes Frau, der progressiven Historikerin Hedwig Hintze (1884–1942), oder den jüdischen Doktoranden von Meinecke – teilte er mit vielen Zeitgenossen. Aber gleichzeitig lehnte er die NS-Bewegung ab, die ihm zu unchristlich und wohl auch zu plebejisch war, wurde nie »Pg«, sondern versuchte, sich eine Art konservative Anständigkeit zu bewahren. Insofern zeigt sein Beispiel, dass man mitten in Berlin, nicht weit von den Schaltzentralen des Dritten Reiches, als ordentlicher Professor die neueste Geschichte lehren konnte, ohne, wie später behauptet wurde, alles »mitmachen« zu müssen.
Die jetzt von Hans-Christof Kraus vorgelegte und im Großen und Ganzen ausgezeichnet kommentierte Briefauswahl bietet einen tiefen Einblick in diese nur scheinbar ruhige Biographie und die Wechselfälle eines Gelehrtenlebens. Es beginnt mit prekären Anstellungen in diversen Editionsprojekten, die den jungen Doktor in Archive und Provinzstädte führen, dann folgt die Habilitation in Halle und schließlich der Große Krieg, den Hartung als Unteroffizier an der russischen Front erlebt. Doch zum Glück behandeln ihn seine Vorgesetzten, als sie von seinem Professorentitel erfahren, fast wie einen Offizier, und nach einer Verwundung verbringt er die zweite Hälfte des Krieges in diversen Lazaretten. Er nutzt diese Zeit für eine rege publizistische Tätigkeit, so dass er schon bald nach dem Krieg, ausgewiesen durch wissenschaftliche und populäre Veröffentlichungen, in Kiel auf seinen ersten Lehrstuhl gelangt. Bereits ein Jahr später erreicht ihn der Ruf nach Berlin.
Während die Briefe aus Kaiserzeit und Krieg noch keine großen Überraschungen bieten, sondern vor allem den Autor in seinem familialen und akademischen Umfeld situieren, auch seine lebenslangen Gesundheitsprobleme schildern (Tuberkulose), öffnet sich mit den zwanziger Jahren das ganze Spektrum des Berliner Universitätsbetriebs. Wer sich also für das Leben eines »durchschnittlichen« Professors ohne großbürgerlichen Hintergrund oder Attitüde, auch ohne Vermögen oder Netzwerke, interessiert, wird hier reichhaltiges Material vorfinden. Natürlich stehen professorale Ränke im Mittelpunkt, aber Hartung thematisiert eben auch sein Familienleben, pflegt alte Freundschaften – vor allem mit dem Hallenser und später Göttinger Historiker Siegfried Kaehler – und diskutiert mit den Adressaten der Briefe seine wissenschaftlichen Projekte und politischen Anschauungen. Da Berlin nun mal die Reichshauptstadt ist, fallen dabei zwangsläufig große Namen, wie etwa Martin Heidegger, mit dessen vergeblicher Berufung Hartung als Dekan befasst ist.
Schon ab Brief Nr. 93 (von 343) geht es um den Hitler-Staat. Wie viele Konservative ist Hartung am Anfang nicht ganz abgeneigt. »In manchen Dingen«, schreibt er an seinen Freund Gustav Aubin, stehe er »der Bewegung nahe genug, um ohne Opfer meiner Ueberzeugung mich ihr anschliessen zu können. Aber ich stamme doch noch aus dem Vorkriegsdeutschland und bin Protestant und Gelehrter alten Schlages. In der unbedingten Unterwerfung unter eine höhere Autorität sehe ich etwas Katholisches, was ich nicht mitmachen kann« (S. 237).
Natürlich bilden die Kommunisten für ihn die größte Gefahr, aber auch die »Verjudung« betrachtet er als Problem. Obwohl er in der Entlassung von Hans Rothfels eine »besondere Tragik« sieht, denn mit dem konservativen Königsberger Historiker verbinden ihn viele wissenschaftliche und politische Gemeinsamkeiten, hat er für »den Kampf gegen die Juden« durchaus großes Verständnis – »angesichts mancher zu 90 % verjudeter Universitätsinstitute« (S. 240). Dass er in diesem Zusammenhang wiederholt auf das Schicksal seines kranken Lehrers Hintze zu sprechen kommt, dessen jüdische Frau ständig im Ausland sei, ist nicht zu überhören.
Hedwig Hintze, die Hartung sowohl als Habilitandin bzw. Privatdozentin in seiner Fakultät als auch als Gastgeberin im Salon des Meisters erlebt hat, ist ihm offensichtlich höchst unsympathisch: »Sie war immer so einseitig und fanatisch demokratisch, daß selbst Meinecke gelegentlich Einspruch erhob. Trotzdem bin ich der Ansicht, daß Frau Hintze besser täte, ihren Mann zu pflegen, statt in Paris die Rolle der politischen Märtyrerin zu spielen« (S. 290). Als Otto Hintze 1940 stirbt, schreibt Hartung einen langen Nachruf, in dem er »mit voller Absicht die Frau« (sic) mit keinem Wort erwähnt (S. 349).
Wie gesagt, Hartung verweigert sich ganz bewusst der Nazipartei, aber er kann nicht jedem Kontakt mit Nazihistorikern ausweichen. Obwohl er als Ordinarius relativ geschützt ist und es sich leisten kann, mit verfemten Kollegen wie Hermann Oncken, Friedrich Meinecke oder Gerhard Ritter zu verkehren, reflektiert er immer wieder die Gefahr und ist daher auch zu inhaltlichen Zugeständnissen, wie etwa der Einfügung der Dolchstoßlegende in die Neuauflage seiner »Deutschen Geschichte«, bereit. (Nach dem Krieg wird er das selbstkritisch einräumen.) Auch am sogenannten »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften«, der von dem Mediävisten Theodor Mayer organisiert wird, beteiligt er sich. Aber als Verhaltenskompass dient ihm seine kulturprotestantische Ethik und vor allem die von seinen Lehrern übernommenen traditionellen Qualitätskriterien. Damit kann er die allermeisten NS-Karrieristen, die ihm als Dekan oder Ordinarius nähertreten und von denen kaum einer wissenschaftlich etwas vorzuweisen hat, auf Distanz halten. So etwa Walter Frank, der zwar als oberster NS-Historiker auftritt, aber sich eher als Redner und Publizist betätigt, oder Franz Alfred Six, der zwar einen Lehrstuhl bekommt, weil er eine »auslandswissenschaftliche Fakultät« aufbaut, aber im Grunde nur Propagandabroschüren verfasst (und außerdem, was Hartung nicht wissen kann, für das Reichssicherheitshauptamt arbeitet).
Schon ab Mitte der Weimarer Jahre nimmt unter Hartungs Projekten vor allem eine Zeitschrift eine besondere Rolle ein, die »Jahresberichte für deutsche Geschichte«, die er zusammen mit seinem mediävistischen Kollegen Albert Brackmann herausgibt. Dabei handelt es sich um eine jährlich erscheinende, kommentierte Bibliografie, die die Nachfolge der vor dem Ersten Weltkrieg existierenden »Jahresberichte für Geschichtswissenschaft« antreten soll. Doch deren Rolle hat mittlerweile die in Paris herausgegebene »Bibliographie internationale des sciences historiques« übernommen.
Deshalb versuchen es die deutschen Historiker mit einem neuen Konzept, das sich stärker auf den eigenen Raum konzentriert, trotzdem aber um ausländische Mitarbeiter wirbt. Sogar Marc Bloch wurde damals angesprochen. Für den Laien mag so ein hilfswissenschaftliches Projekt, das Hartung bis ins hohe Alter begleiten wird – erst 1958 gibt er es unfreiwillig ab –, etwas bieder wirken, etwa wie ein gigantischer Zettelkasten. In einer Zeit jedoch, in der bibliographische Informationen mitunter schwer zugänglich waren, stellen diese Jahrbücher, die unter Beteiligung der Leipziger Deutschen Bücherei entstehen, ein wichtiges Arbeitsinstrument dar, in dem sich außerdem die wichtigsten wissenschaftlichen Trends und Prioritäten spiegeln1. Dies gilt für die Weimarer Jahre ebenso wie für die NS-Zeit und die Jahre nach 1945.
Wie ein roter Faden durchziehen die Auseinandersetzungen um diese »Jahresberichte« Hartungs Korrespondenz. Vor allem die Anfänge der DDR sind hier besonders spannend. Denn Hartung gehört zu den wenigen »bürgerlichen« Historikern, die – obwohl er privat im Westen wohnt – nicht den Weg zur »Freien Universität« gehen, sondern sich um den Erhalt der alten »Linden-Universität« sowie der Preußischen Akademie der Wissenschaften bemühen. Welche Probleme damit verbunden sind, wie im Osten und Westen der Alltag erlebt wird, wie ein Gelehrter »alten Schlages« versucht, in regem Austausch mit Kollegen und Freunden in den Westzonen ein Minimum an Gemeinsamkeit zu retten, während er gleichzeitig immer neuen ideologischen Zumutungen ausgesetzt ist, für die er aufgrund seiner Vorgeschichte keinerlei Verständnis hat – die meisten marxistischen Remigranten sind für ihn nämlich ebenso unqualifiziert wie seinerzeit die nationalsozialistischen Karrieristen –, all das macht die zweite Hälfte dieser Edition (Nr. 184 bis 343) besonders lesenswert und zu einer Fundgrube für alle, die die allmähliche Aufspaltung der deutschen Historikerzunft näher verfolgen wollen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schöttler, Rezension von/compte rendu de: Hans-Christof Kraus (Hg.), Fritz Hartung – Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit, Berlin (Duncker & Humblot) 2019, XIV–889 S. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 76), ISBN 978-3-428-15731-0, EUR 119,00., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77271