Militär- und Wirtschaftsspionage gehen in der Person von Joseph Crozier (1872 Lyon–1939 Paris) alias Pierre Desgranges eine Verbindung ein, aus der ein bisher unbekanntes Kapitel der Geheimdienstgeschichte des Ersten Weltkrieges erwuchs – mit Verbindungen zur deutschen Arbeiterbewegung. Dessen Hauptgestalt fiel, trotz seiner 1930 erschienenen Erinnerungen1, der Vergessenheit anheim. Aus dieser entriss ihn die Biografie des an der Militärhochschule Saint-Cyr tätigen Historikers Olivier Lahaie, die auf umfangreichen Studien in französischen, britischen, Schweizer und US-Archiven beruht. Als wichtigste Fundgrube erwies sich das französische Kriegsarchiv in Vincennes. Croziers Behauptung, ohne ihn und seine Waffenlieferungen an die deutsche radikale Linke wäre die Geschichte am Ende des Ersten Weltkrieges anders verlaufen, unterzieht Lahaie einer Prüfung.
Die spannende, mitunter zu ausladend angelegte Darstellung zeigt einen Menschen, der seine von keinerlei Skrupel gebremste Tatkraft hinter einem unauffälligen Äußeren und höflichen Manieren verbarg. Vor 1914 war der als Anwalt und Geschäftsmann in Brüssel tätige Crozier ein enger Mitarbeiter des in Deutschland geborenen britischen Bankiers Ernest Cassel, der einen Teil seines Geldes im Waffenhandel verdiente.
Nach dem deutschen Überfall auf Belgien flüchtete Crozier nach Paris. In Spanien sollte er eine große Zahl von Mausergewehren an Deutschland verkaufen, informierte aber den französischen Geheimdienst davon, der schließlich über Mittelsmänner den Kauf der Waffen durch Frankreich bewerkstelligte.
Daraufhin bot Crozier dem französischen Geheimdienst selbst seine Dienste an. Er wurde der neugebildeten Abteilung für Wirtschaftsspionage des 2e bureau zugewiesen. Diese Abteilung war auch für die logistische Seite der alliierten Wirtschaftsblockade gegen Deutschland zuständig. In ihrem Auftrag ging Crozier in die neutralen Niederlande. Dort trat er als erfolgreicher Großhändler vor allem für Öl, Brennstoffe und Fette auf.
Crozier war auch im Möbelgeschäft, im Seifen- und sogar im Opiumhandel tätig; ein Mann, der sich um das Schicksal seines Landes nicht groß zu kümmern schien. Er wollte, so schien es, nur schnell sehr viel Geld verdienen – und dies vor allem durch Handel mit Frankreichs Gegner Deutschland. Wichtige Informationen sowie nötige finanzielle Mittel erhielt er von Cassel. Für seine französischen Auftraggeber leitete Joseph Crozier als Leutnant Pierre Desgranges eine Gruppe von technisch sehr gut ausgerüsteten Agenten, denen vor allem die Wirtschaftsspionage oblag.
In Düsseldorf gründete er eine Zweigstelle seiner verschiedenen Unternehmen, durch die er zahlreiche Informationen, so über den deutschen U-Bootkrieg, erhielt, die er dem französischen Geheimdienst weiterleitete. Besonders enge Kontakte unterhielt er zu Albert Ballin, dem Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, der weltgrößten Schifffahrtsgesellschaft. Ballin hatte nach Kriegsbeginn die Reichseinkaufs-Genossenschaft zum Ankauf von Lebensmitteln aus dem Ausland gegründet und wurde von Crozier regelmäßig beliefert.
Nur kurz erwähnt Lahaie, dass ein Agent Croziers in britischem Auftrag versuchte, Edith Cavell, eine Krankenschwester, die gefangenen alliierten Soldaten zur Flucht verholfen hatte, aus deutscher Haft in Brüssel zu befreien. Doch blies der britische Geheimdienst die Aktion ab, und Edith Cavell wurde im Oktober 1915 von einem deutschen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Als Märtyrerin war sie der alliierten Kriegspropaganda nützlicher denn als Überlebende (vgl. S. 203).
Anfang 1917 endete Croziers Mission. Er wurde zur französischen Armee gezogen, kam aber nicht an die Front, sondern versah Postdienste im Hinterland. Im November empfahlen ihn Oberstleutnant Henri Herscher und der Chef der Wirtschaftsspionage Jean Tannery (offiziell Leiter der Post- und Telegrammkontrolle) dem neuen Premierminister Georges Clemenceau zur besonderen Verwendung. Clemenceau lud Crozier umgehend zu einer Unterredung. In deren Folge entwarfen Crozier und Paul Boucabeille, der französische Militärattaché in Den Haag, den Plan der Entfachung und Unterstützung von Aufstandsbewegungen in Deutschland – analog zur deutschen Unterstützung der russischen Revolutionäre 1917.
Crozier ging erneut in die Niederlande. Durch David Wijnkoop, den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei (Vorläufer der Kommunistischen Partei), dessen Wahlkämpfe er mitfinanziert hatte, kam er in Kontakt mit deutschen revolutionären Linken, darunter mit Carl Minster und Wilhelm Pieck. Dieser war Anfang 1918 aus der deutschen Armee desertiert und auf Beschluss der Spartakusgruppe illegal nach Amsterdam gegangen. Pieck, der kurz vor seiner Flucht noch illegal die Massenstreiks in den Berliner Rüstungsbetrieben mit vorbereitet hatte, berichtete Crozier von der Kriegsmüdigkeit und latenten Revolutionsbereitschaft deutscher Arbeiter. Optimistisch prophezeite Crozier im Frühjahr 1918 revolutionäre Aufstände in Deutschland. Die Deutschen würden eine Verlängerung des Krieges und eine nochmalige Winteroffensive wie 1917 nicht mehr hinnehmen. Noch vor Anbruch des Winters werde die Revolution ausbrechen, deren allererste Konsequenz der sofortige Frieden sei.
Der französische Geheimdienst sah sich als möglicher Geburtshelfer der Revolution. Deshalb suchte Crozier über Pieck die Verbindung zur USPD, zu den Revolutionären Obleuten (den kriegskritischen Betriebsvertrauensmännern) und zum Spartakusbund. Dessen Bemühungen, die spontanen Massenbewegungen Ende Oktober 1918 in eine revolutionäre Richtung zu lenken, stießen bei USPD-Führern und Teilen der Obleute auf Skepsis. Doch erhielten die Obleute, die wichtigste Kraft der radikalen Linken, durch von Crozier angebahnte Kanäle die nach Deutschland geschmuggelten Waffen.
Anfang November war Crozier beim von den Obleuten dominierten Vollzugsausschuss der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin – nicht beim Spartakusbund, wie er zunächst annahm und Lahaie schreibt. (vgl. S. 343). Doch trat er durch den Vollzugsausschuss in Kontakt mit Karl Liebknecht. Natürlich suchten alle deutschen Beteiligten den Kontakt zu verwischen; niemand durfte sich den Vorwurf einhandeln, mit dem Kriegsgegner zusammenzuarbeiten. Von der Wucht, mit der die Revolution sich ausbreitete, wurde Crozier wie alle Zeitgenossen überrascht. Unterdessen überwachte sein Netzwerk den Rückzug deutscher Armeeverbände, der zum Teil über niederländisches Territorium erfolgte.
Doch am 10. November wies General Boucabeille Crozier an, die Zusammenarbeit mit den deutschen Revolutionären einzustellen. Die Pariser Politiker und Militärs hatten ihr Hauptziel, den Sturz des Kaisers, erreicht und fürchteten das Ausgreifen einer erfolgreichen deutschen Revolution auf Frankreich. Crozier befolgte die Anordnung, doch die Waffen verblieben in den Händen der deutschen Revolutionäre, die sich im Januar 1918 – möglicherweise angestachelt durch agents provocateurs – in Berlin zu einer aussichtslosen Erhebung hinreißen ließen, dem fälschlich so bezeichneten Spartakusaufstand. Dieser endete mit dem blutigen Gericht der Konterrevolution und den Morden an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.
Crozier ging zurück ins Bankwesen. Er wurde als »braver französischer Bürger von ruhiger Erscheinung, imposanter Statur, einem offenen und mitfühlenden Blick« beschrieben, als guter Familienvater, »der das Philosophiestudium seiner Tochter aufmerksam verfolgte« (S. 380). Doch gestand er einem Journalisten, die Ermordung zahlreicher feindlicher Agenten in die Wege geleitet zu haben. Er starb unbeachtet kurz vor dem Zweiten Weltkrieg; kein Nekrolog erinnerte an den einstigen Geheimagenten. Der Gang der Geschichte, das zeigt dieses Buch, wurde, entgegen Croziers Behauptung, durch Operationen der Geheimdienste durchaus beeinflusst, aber keineswegs in ihren Grundzügen bestimmt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mario Keßler, Rezension von/compte rendu de: Olivier Lahaie, Le nerf de la guerre. Berlin 1918–1919. Un agent secret français spécialisé dans la guerre économique finance la révolution spartakiste. Préface de Bernard Besson, Paris (L’Harmattan) 2020, 532 p., ISBN 978-2-343-19416-5, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77272