Die politische Ideengeschichte ist »per se eine selbstreflexive Disziplin«, wie es im ersten Satz der Einleitung zu dem von Gérard Raulet und Marcus Llanque herausgegebenen Sammelband heißt. Es verwundere daher, so die Herausgeber, dass sich die Disziplin nie selbst einer (systematischen) Reflexion ihrer eigenen Genealogie unterzogen habe. Und tatsächlich: Wirft man einen kursorischen Blick in die handelsübliche Einführungsliteratur, so gibt es zwar eine Vielfalt von Darstellungen der »Geschichte des politischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart« und Einführungen in verschiedene Methoden des Fachs.
Konzise Geschichten der Teildisziplin oder gar ideengeschichtliche Reflexionen ihrer eigenen methodischen und inhaltlichen Entwicklungen sind hingegen äußerst rar gesät, wenngleich die wesentlichen Stationen und Protagonisten dieser Genealogie (von »Lovejoy zu Skinner«) in der scientific community als bekannt vorausgesetzt werden. Bislang kann man daher zwar von einem einigermaßen kanonisierten, aber trotzdem eher impliziten historischen Selbstverständnis des Faches sprechen, wobei der Bereich des kanonisierten Bestandes umso mehr ausfranst, je mehr man die Ideengeschichte als transdisziplinäres Fach mit Ausläufern in die Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Rechtswissenschaft oder Literatur und nicht nur als Teildisziplin der Politikwissenschaft begreift.
Der Sammelband liefert kein systematisches Handbuch, aber einen ersten Aufschlag und wichtige Anregungen zu einer solchen Historisierung, vor allem aber zu einer genealogischen Selbstreflexion der politischen Ideengeschichte. Die Ideengeschichte ist dafür prädestiniert, muss sie doch »nur« ihre eigenen Methoden auf sich selbst anwenden. Dementsprechend geht es in dem Band vor allem um das Aufdecken von »Diskursstrategien« und die Untersuchung der »Ideenpolitik« in der Praxis der Ideengeschichte selbst. Nicht nur die Philosophie und politische Ideen, sondern auch die Ideengeschichte als akademische Disziplin ist immer »ihre Zeit in Gedanken gefaßt«, um Hegel zu bemühen. Sie steht in ihrer Zeit und ist Teil des politischen Diskurses und somit immer auch Teil von »Ideenpolitik«, die bestehende Deutungen oder Ordnungen legitimiert oder im Namen möglicher Alternativen kritisiert. Eine reflexive Ideengeschichte nimmt sich dieser eigenen Stellung in politischen und sozialen Deutungskämpfen an.
Einige methodische Impulse gehen besonders von den ersten Beiträgen des Sammelbandes aus, etwa von Frauke Höntzschs Überlegungen zur »Diskontinuität als Paradigma« der Ideengeschichte, die als »Kontingenzerfahrung« schon vor dem »Zivilisationsbruch« im 20. Jahrhundert ein Charakteristikum modernen politischen Denkens gewesen sei, durch diesen aber nachdrücklichen Eingang in die ideengeschichtliche Reflexion und ihre Methodik gefunden habe. Ähnlich anregend sind die Überlegungen Rieke Trimçevs zu produktiven und weniger produktiven Anachronismen als Mittel ideengeschichtlicher Erkenntnis.
Der Großteil der übrigen Beiträge des Bandes widmet sich dann der Ideengeschichte selbst und bestellt trotz der großen Zahl an Beiträgen ein recht eng gefasstes Feld. Immer wieder sind es Spinoza, Hobbes, Machiavelli und Rousseau, die einem begegnen, und ebenso Carl Schmitt, Leo Strauss und Hannah Arendt – ergänzt um eine etwas weiter gefasste Corona an ideengeschichtlich argumentierenden Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Zwei Themen nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein, nämlich erstens, unter der Überschrift »Lehren aus Weimar. Diskursstrategien«, die wichtige »Sattelzeit« der ideengeschichtlichen Forschung in den 1920er- und 1930er-Jahren.
Auf dem Höhepunkt der Kontingenzerfahrung vor dem Zivilisationsbruch bildete sie den Inkubationsraum, in dem die wichtigsten Deutungen auch der Nachkriegszeit angelegt wurden. Durch die Emigration erfolgte dann auch die verstärkte internationale Diffusion dieser Deutungen in eine dann transnational gefasste und betriebene Ideengeschichte. Hier steht im Band vor allem das Dreieck aus Deutschland, Frankreich und den USA im Mittelpunkt, was auch dem Entstehungskontext des Buches geschuldet ist. Denn entstanden ist es aus einem gemeinsamen Forschungsvorhaben der Groupe de la recherche sur la culture de Weimar mit dem Lehrstuhl für politische Theorie der Universität Augsburg (und zuvor der TU Chemnitz).
Das zweite Thema, aus dieser transnationalen Konstellation erwachsend, ist die Entwicklung eines genuin republikanischen Strangs der Ideengeschichte, der sich im 20. Jahrhundert im Sinne der oben beschriebenen »Ideenpolitik« als alternatives Deutungsangebot zum hegemonialen Liberalismus (bzw. seinen libertären und ökonomistischen Verkürzungen) formiert habe. Exemplarisch sei hier der (zweite) Beitrag von Daniel Schulz genannt, der den Bogen von der Weimarer Renaissanceforschung über John Pocock und Quentin Skinner bis hin zu Philipp Pettit schlägt, bei dem er allerdings den Verlust einer historisch-politischen Sprache zugunsten eines abstrakt und analytisch-philosophisch formulierten Republikanismus beklagt und dies als Bedeutungsverlust genuin ideengeschichtlich-narrativ betriebener politischer Philosophie bedauert.
Schulz vermag es in diesem Beitrag überzeugend zu zeigen, wie die auf den ersten Blick unpolitisch wirkende ideengeschichtliche Forschung zum Republikanismus immer auch eine Stellungnahme zu den Deutungskämpfen ihrer Zeit war. So habe in Weimar »ein Minderheitendiskurs […] die genuin republikanische Frage nach der Ordnung der Freiheit historisch verarbeitet« und »die Frage nach der Möglichkeit einer deutschen Republik in der ideengeschichtlichen Reflektion auf die republikanischen Theoriediskurse in Florenz« (S. 441) verhandelt. Dieser und einige weitere Beiträge (z. B. von Marcus Llanque und Bruno Quélennec) lösen das Versprechen des Bandes bzw. seinen Ansatz gut ein, indem sie diese Verzahnung von Ideengeschichte und zeitgebundenen Deutungskämpfen anschaulich herausarbeiten.
Einige andere Beiträge leisten dies aber nur bedingt, weil sie allzu oft als recht »klassische« Ideengeschichte daherkommen. Hier tun sich dann auch einige Probleme des Bandes auf. Als Ideengeschichte, die sich nur noch mit Denkerinnen und Denkern beschäftigt, die selbst ideengeschichtlich argumentieren, verengt sie ihren Blick. Die oben monierte Engführung auf einige und immer wiederkehrende Denkerinnen und Denker ist also nicht nur dem fachlichen Hintergrund der zum Band eingeladenen Autorinnen und Autoren geschuldet, sondern auch diesem Blick auf eine schon im Vorfeld kanonisierte Schar und eine nicht ganz so kanonisierte, aber doch eng eingegrenzte Gruppe an »Verarbeitern« des ideengeschichtlichen Diskurses. Dabei ist Ideengeschichte – auch in ihrer Genealogie als Fach – weit mehr als die immer wiederkehrende Rezeption von Rousseau und Hobbes.
Vieles klingt in dem Band nach einer ideengeschichtlich betriebenen Philosophiegeschichte, doch hat beispielsweise Foucault in seinen ideengeschichtlichen Arbeiten gezeigt, dass das Fach auch ganz anders betrieben werden kann. Als ganz so einfach erweist es sich dann also doch nicht, die eigenen Methoden auf die eigene Disziplin anzuwenden. Vielmehr droht hier ein methodologischer Regress in eine wenig fruchtbare Selbstbespiegelung, wenn die eigentlich überzeugend formulierte Fragestellung des Bandes nicht durchgängig erkenntnisleitend ist. Verstärkt wird dies durch eine Literarisierung des Faches, einen Hang zur Ästhetisierung von Formulierungen und die Entwicklung eines recht hermetischen Jargons, der die Lektüre nicht immer einfach macht.
Trotzdem: Die mit dem Band angeregte Historisierung und Reflexivwerdung der politischen Ideengeschichte ist ein äußerst lohnenswertes Unterfangen, und den Herausgebern ist zu danken, hierfür einen wichtigen und weitreichenden Impuls gesetzt zu haben. Glücklicherweise stehen wir daher erst am Anfang einer »Ideengeschichte der Ideengeschichte«, so dass es noch vieler weiterer Publikationen bedarf und es späteren Generationen überlassen bleiben wird, eine »Ideengeschichte der Ideengeschichte der Ideengeschichte« zu verfassen …
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Andreas Braune, Rezension von/compte rendu de: Gérard Raulet, Marcus Llanque (Hg.), Geschichte der politischen Ideengeschichte, Baden-Baden (Nomos) 2018, 494 S., ISBN 978-3-8487-4865-5, EUR 94,00., in: Francia-Recensio 2020/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77279