Am 21. Mai 1420 wurde in der Kathedrale von Troyes ein Friedensvertrag zwischen England und Frankreich besiegelt, der schon von den französischen Zeitgenossen mit gemischten Gefühlen aufgenommen und von der französischen Historiografie seit dem 18. Jahrhundert als »honteux traité« disqualifiziert wurde. Die Ergebnisse dieses Staatsaktes waren für alle Beteiligten, insbesondere die Königshäuser der Valois und Lancaster, aber auch für die Position Herzog Philipps des Guten von Burgund von unmittelbarer und einschneidender Wirkung: Der Dauphin verlor seinen Erbanspruch auf den französischen Thron; der in der Schlacht von Azincourt 1415 siegreiche englische Herrscher, Heinrich V., übernahm als »Regent in Frankreich« faktisch die Regierungsgeschäfte in Paris; die in Troyes vereinbarte und wenige Wochen darauf vollzogene Ehe Heinrichs mit Katharina von Valois sollte den Grundstein für eine neue Dynastie englisch-französischer Doppelmonarchen legen; der Herzog von Burgund schließlich gewann durch sein Bündnis mit den Lancaster eine bis dahin ungekannte und autonome Machtstellung in Frankreich.

Bis heute erfreuen sich der Vertrag von Troyes und die darauf folgende Phase der englischen Besetzung größerer Teile Frankreichs einschließlich der Hauptstadt Paris einer deutlich breiteren Resonanz in der englischen und internationalen Forschung als in der französischen. Daher ist es hervorzuheben, dass dieses Ereignisses am Ort des Geschehens unter der wissenschaftlichen Leitung von Valérie Toureille (Université de Cergy-Pontoise) und Arnaud Baudin (Université Paris 1) in einer großen Ausstellung (vom 4. September 2020 bis 3. Januar 2021) gedacht wird. Zu diesem Anlass wurde ein wissenschaftlicher Katalog vorgelegt, in dem die politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Kontexte des Vertrags von führenden französischen und internationalen Forscherinnen und Forschern aufgedeckt und zugleich die vielfältigen Exponate der Schau großformatig in beeindruckender Qualität gezeigt werden.

Während sich die drei einführenden Beiträge von Philippe Pichery, dem Präsidenten des Conseil départemental de l’Aube, den wissenschaftlichen Organisatoren sowie von Philippe Contamine mit der höchst unterschiedlichen Rezeption und Interpretation des Geschehens von Mai 1420 in seinen Auswirkungen auf das zeitgenössische Machtgefüge in Europa und in der langen Perspektive bis heute befassen, folgt die weitere Einteilung des über 400 Seiten umfassenden Bandes den Sektionen der Ausstellung: »Der politische Kontext (1407–1419)«, »Der Vertrag von Troyes«, »Leben in der Champagne in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts«, »Krieg und Rückeroberung« sowie abschließend: »Die Erinnerung an den Vertrag von Troyes«.

Mit Anne Curry und Christopher Allmand sind zwei herausragende Vertreter der englischen Forschung an der Rekonstruktion der Kontexte beteiligt: Zunächst verfolgt Édouard Bouyé skizzenhaft die lang währende englische Obsession einer englisch-französischen Doppelmonarchie von der Zeit König Eduards III. (1327–1377) bis ins frühe 19. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund wird klarer, dass die Ereignisse von Troyes den Punkt in einer Jahrhunderte währenden Beziehung markieren, an dem zum einzigen Mal eine Realisierung dieser Idee greifbar nahe schien.

Bertrand Schnerb übernimmt es, die korrodierende Herrschaft in Frankreich in den späten Jahren König Karls VI. zu umreißen, die von Attentaten in der Königsfamilie, dem eskalierenden Bürgerkrieg zwischen Bourgignons und Armagnacs und von der zunehmenden Unfähigkeit Karls VI., seine Herrschaft auszuüben, geprägt war. Ein wichtiges Resultat dieses Beitrags liegt in der Erkenntnis, dass bereits vor der Niederlage von Azincourt der Herzog von Burgund zur bestimmenden Figur der französischen Politik avanciert war.

Christopher Thomas Allmand stellt in seinem Beitrag klar, dass bereits die zeitgenössischen Bewertungen der Ursachen der »guerre de Cent Ans« durchaus variierten: als Lehnskonflikt zwischen dem französischen Lehnsherrn und seinem rebellischen Lehnsmann auf dem englischen Thron, als Erbfolgekonflikt um den französischen Thron oder als Territorialkonflikt zweier aufstrebender europäischer Nachbarreiche. In seinem Fazit hebt er die besonderen militärischen Talente und Erfolge Heinrichs V. als Hauptursache für die dynamischen politischen Entwicklungen der Jahre 1415–1420 hervor. Alain Marchandisse verfolgt schließlich die Rolle der burgundischen Herzöge im Umfeld des Vertrags von Troyes. Dieser Teil wird abgeschlossen durch insgesamt 14 knappe Objektskizzen zu so unterschiedlichen Exponaten wie dem Schädel des 1419 ermordeten Herzogs Johann Ohnefurcht oder einem Portrait Heinrichs V. aus dem frühen 16. Jahrhundert.

Das eigentliche Geschehen im Mai 1420 in Troyes ordnen Cléo Rager, Anne Curry, Martin Kintzinger, Ghislain Brunel, Philippe Contamine und andere ein. Die Präsenz der unterschiedlichen Höfe, die aus Troyes die Kulisse für einen bedeutenden europäischen Staatsakt machte, wird hier ebenso beleuchtet wie das politische Tauziehen um einzelne Klauseln oder diplomatische und archivalische Aspekte der beiden überlieferten Vertragstexte (in französischer und lateinischer Sprache).

Unter den eindrücklichen Exponaten, die jeweils im Mittelpunkt eines Beitrags stehen, ragt unter anderem eine durch Anne Curry besprochene Truppenliste mit Verstärkungen für König Heinrich V. von Frühjahr 1420 hervor, die eindringlich klar macht, dass die englische Position trotz des Siegs von Azincourt und der burgundischen Unterstützung keineswegs unangefochten war. Ein anderes Leitobjekt stellt eine Goldmünze König Heinrichs VI. mit dem charakteristischen Doppelwappen aus fleurs de lys und den Lancaster-Löwen auf dem Revers dar. Zur Herrschaft dieses ersten und einzigen englisch-französischen Doppelmonarchen (1431–1435) gibt es außer einer kurzen Bildbesprechung leider keinen weiteren Beitrag.

Mit der regionalen Perspektive auf die burgundische Champagne im frühen 15. Jahrhundert führt der Band vom vorrangig politischen Interesse am Staatsakt von 1420 weg und leistet eine breite sozial-, wirtschafts- und kulturhistorische Einführung anhand einer großen Bandbreite von Exponaten und Dokumenten: Arnaud Baudin widmet sich der historischen Landschaft Champagne, Aurélie Gauthier der blühenden urbanen Kultur, Élisabeth Lusset der Kirchenorganisation, Véronique Beaulande-Barraud der Frömmigkeitspraxis und eine Reihe weiterer Beiträge und Objektskizzen der reichen materiellen Kultur und Schriftüberlieferung.

Auch die folgende Sektion zu »Guerre et Reconquête« geht von der besonderen Lage der Champagne zwischen den burgundischen Kernterritorien und der Île-de-France aus. Laurent Vissière, Olivier Renaudeau, Brice Collet, Alain Morgat und Aleksandr Lobanov beleuchten zunächst militärische Aspekte wie die Ausstattung der rivalisierenden Heere mit Waffen oder den Aufbau eines Netzes englischer Garnisonen in der Champagne. Zu den zentralen politischen Episoden in der Folge des Vertrags von Troyes zählen die Regentschaft des Herzogs Johann von Bedford in Frankreich, der in diesem Amt seinen 1422 in Vincennes verstorbenen königlichen Bruder beerbt, sowie das Auftreten Johannas von Orléans und das Wiedererstarken der Valois. Mit Anne Curry und Valérie Toureille kommen hier zwei der besten Kennerinnen der Materie zum Zuge. Unter den vielfältigen Exponaten beeindruckt der erhaltene Krönungsbaldachin Karls VII., dessen politische Ikonografie Élisabeth Antoine-König als »anti-traité de Troyes« charakterisiert.

Mit der Rezeption des Vertrags von Troyes schließlich befassen sich vier abschließende Beiträge, die so unterschiedliche Themenfelder eröffnen wie den Blick auf Heinrich V. im Werk William Shakespears (Line Cottegnies), den Frieden von Amiens im März 1802 zwischen Großbritannien und dem napoleonischen Fankreich (Patrice Gueniffey), das französisch-englische Bündnis von Juni 1940 (Jenny Raflik) oder den Hundertjährigen Krieg im Kino (François Amy de La Bretagne).

Ein etwa 100 Jahre altes Foto vom Vorplatz der Kathedrale von Troyes erinnert an die Feierlichkeiten zu Ehren von Jeanne d’Arc, die hier 500 Jahre zuvor begeistert empfangen worden war. Nach dem Ersten Weltkrieg trug die Pucelle zur Versöhnung von Republikanern und Katholiken in Frankreich bei, wie Nicolas Dohrmann ausführt. Sorgfältige Register und eine Bibliografie runden diesen aufwändig gestalteten Katalogband ab, der die wissenschaftlichen Perspektiven und materiellen Überlieferungen zu einem wichtigen Datum der europäischen Geschichte auf eindrucksvolle Weise zusammenführt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Arnaud Baudin, Valérie Toureille (dir.), Troyes 1420. Un roi pour deux couronnes, Gand (snoeck) 2020, 408 p., 500 ill., ISBN 978-94-6161-5985, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77329