Die Geschichte des Mittelalters, zumal des frühen, scheint mitunter ganz von Akteuren bestimmt, die den höchsten Gesellschaftsschichten angehörten. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbands sind beileibe nicht die ersten, die diese einseitige Fixierung auf »Herrscher, Heerführer und Heilige« aufbrechen möchten. Sie tun dies allerdings auf zweifach originelle Art und Weise: Sie richten den Fokus zum einen auf archäologische Quellen und machen hieran deutlich, dass man auch der bäuerlichen Landbevölkerung ein gewisses Maß an »agency« zusprechen kann. Zum anderen ruht der Blick besonders auf der europäischen Peripherie. Die Verfasser behandeln in ihren Beträgen Gegenden im heutigen England, Norwegen, Island, den Niederlanden, der Iberischen Halbinsel und Norditalien. Studien, die sich mit den karolingischen Kerngebieten beschäftigen, sucht man dagegen vergebens. Die Herausgeber begründen ihren geografischen Schwerpunkt unter anderem damit, die von ihnen untersuchten Gebiete seien »unencumbered by accumulated historiographical baggage« (S. 4).

Der Band ist aus mehreren staatlich finanzierten Drittmittelprojekten hervorgegangen und steht thematisch und personell in der Nachfolge zweier früherer Publikationen, die ebenfalls bei Brepols veröffentlicht wurden: Bereits 2006 erschien »People and Space in the Middle Ages, 300–1300« (herausgegeben von W. Davis, G. Halsall und A. Reynolds), 2011 folgte »Scale and Scale Change in the Early Middle Ages« (herausgegeben von J. Escalona und A. Reynolds).

Im Fokus der neuesten Publikation steht »the relationship between the local and the world beyond in the Early Middle Ages« – »the local« meint vor allem die Landbevölkerung und ihre Möglichkeiten, die eigenen Belange politisch und sozial auf einer institutionellen Ebene zu artikulieren. Indem nach Wechselwirkungen zwischen dieser »lokalen« Ebene (»neighbourhood«) und den übergeordneten supralokalen Ebenen (»polity«) gefragt wird, soll den nach Meinung der Herausgeber vorherrschenden »top-down readings of the textual evidence« ein alternatives Erklärungsmodell entgegengestellt werden (S. 408).

Zu Beginn skizzieren die Herausgeber den theoretischen Rahmen, in dem sich ihre Publikation bewegt (S. 11–38). Zentral ist dabei die Unterscheidung von »secundary« und »primary states«, die auf die Anthropologin Barbara J. Price zurückgeht, sowie das Konzept von »creative peripheries«. Mit Letzterem sind Gegenden gemeint, die politisch-institutionell eigenständige Wege gehen, weil sich die Zentralmacht mehr und mehr zurückzieht. Man wird kaum bestreiten können, dass gerade die Geschichte des frühmittelalterlichen Westeuropas reiches Anschauungsmaterial bietet, auf das diese Beschreibung zutrifft.

Es folgen zunächst fünf Beiträge, die die Ebene des »Lokalen« in den Blick nehmen. Zunächst fragt Grenville Astill nach der Formierung lokaler Identitäten im frühmittelalterlichen England (S. 39–56). Am Beispiel der »hundreds«, den staatlicherseits festgelegten Verwaltungs- und Gerichtssprengeln, wird hier gezeigt, dass das Funktionieren dieser Einteilung vor Ort auf persönliche Beziehungen angewiesen war, die auf Verwandtschaft und Patronage basierten. Die Effektivität der »hundreds« hing in praxi davon ab, inwieweit ein solcher Bezirk jeweils personell mit den bereits bestehenden »Netzwerken« koinzidierte.

Anschließend vergleicht Margarita Fernández Mier zwei ländliche Siedlungen in Asturien (S. 57–82). Die Autorin kommt zum Schluss, dass sich in beiden Dörfern zeitversetzt vergleichbare Entwicklungen vollziehen, am einen Ort (San Romano) veranlasst durch das Königtum im 10. Jahrhundert, am anderen (Vigaña) durch grundherrschaftliche Kontrolle im 12. Jahrhundert, die durch ein Kloster ausgeübt wurde. Von Bestattungspraktiken im vorkarolingischen Norditalien handelt der darauffolgende Beitrag von Alexandra Chavarría Arnau (S. 83–119). Laut der Autorin spiegelt sich die »politische, ökonomische, soziale und ideologische Fragmentierung« Norditaliens während dieser Umbruchszeit in höchst unterschiedlichen Begräbnisformen wider. Es folgt eine Studie von Iñaki Martín Viso, die den Bogen zurück nach der Iberischen Halbinsel spannt (S. 121–146). Der Verfasser untersucht Begräbnisstätten in abgelegenen, d. h. vom »Staat« weitgehend unbehelligten Gegenden in Zentralspanien. Hier, so Martín Viso, oblag die Bestattung der eigenen Toten ausschließlich der jeweiligen Siedlung und fiel nicht etwa in den Zuständigkeitsbereich eines Grundherrn.

Im zweiten Abschnitt, der wiederum fünf Aufsätze umfasst, steht die Ebene des »Supralokalen«, die über die »neighbourhood« hinausreicht. In einer ansprechenden Studie untersucht Frode Iversen die Rolle des Thing-Systems für die Formierung des norwegischen Staates (S. 147–172). Diese Institution, so Iversen, wurde erst relativ spät, ab dem 11. Jahrhundert, vom Königtum zum Zwecke der eigenen Herrschaftskonsolidierung genutzt. Während sich im frühmittelalterlichen Skandinavien politische Repräsentationsformen schon auf der lokalen Ebene gut nachweisen lassen, ist die Quellenlage für den gleichen Zeitraum in Spanien, wie Alfonso Vigil-Escalera Guirado im nächsten Beitrag zeigt, nicht vergleichbar (S. 173–202). Dass in Zentralspanien Handelsbeziehungen zwischen ländlichen Siedlungen und darüber hinaus die Nutzung gemeinsamer Güter nachweisbar sind, macht es nach Ansicht des Autors zumindest wahrscheinlich, dass es Versammlungen politischen Charakters auf der Siedlungsebene gegeben haben müsse, auf denen sich die Bewohner über die Richtlinien einer gemeinschaftlichen Güternutzung einigten.

Einblick in eine faszinierende Thematik gibt anschließend Orri Vésteinsson (S. 203–223). Lange vor der faktischen Integration Islands in das norwegische Königreich war das Selbstverständnis der isländischen Oberschicht von der ideologisch aufgeladenen Vorstellung geprägt, Teil des Königreiches, mithin eines politisch übergeordneten Ganzen zu sein. Anschließend zeigt Letty Ten Harkel am Beispiel der sog. Ringwallburgen an der Scheldemündung, dass die karolingische Kontrolle hier weniger stark gewesen ist als bisher angenommen (S. 224–265). In einem dicht geschriebenen Beitrag vergleichen Stuart Brookes und Andrew Reynolds verschiedene Gegenden im angelsächsischen England und fragen nach deren unterschiedlich starker Anbindung an supralokale Netzwerke (S. 266–303).

Den Abschluss des Bandes bilden vier Aufsätze, die das Zusammenspiel von lokaler und supralokaler Ebene thematisieren (S. 304–405). Während Wendy Davies und Álvaro Carvajal Castro in ihren Beiträgen spanische Urkundenkorpora auf eine gewandelte Kanzleipraxis hin untersuchen, liegt den Arbeiten von Julio Escalona und Alexander James Langlands das Konzept des »Dense Local Knowledge« zugrunde. Hierunter verstehen die Autoren eine Art exklusives Wissen der lokalen Bevölkerung, auf das auch supralokale Akteure zurückgreifen mussten, wollten sie herrschaftliche Kontrolle vor Ort ausüben. Anhand kastilischer (Escalona) und angelsächsischer Urkunden (Langlands) wird illustriert, dass sich dieses Konzept gerade für die Auswertung urkundlichen Materials fruchtbar machen lässt.

Insgesamt handelt es sich um eine Zusammenstellung lesenswerter Aufsätze, die die Debatte um die Stellung lokaler, insbesondere bäuerlicher Akteure, um eine neue Facette bereichert. Wenn nicht alle Beiträge in gleichem Maße zur Fragestellung beitragen, liegt das nicht zuletzt am äußerst heterogenen Quellenmaterial, das die Verfasser untersuchen. Es ist nachgerade diese Diversität, die die Stärke des Bandes ausmacht.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Julio Escalona Monge, Orri Vésteinsson, Stuart Brookes (ed.), Polity and Neighbourhood in Early Medieval Europe, Turnhout (Brepols) 2019, 425 p., 26 fig., 39 maps, 6 tabl. (The Medieval Countryside, 21), ISBN 978-2-503-58168-2, EUR 110,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77424