Pierre Monnet bedarf gerade an diesem Ort keiner Vorstellung, handelt es sich doch um einen in Frankreich wie Deutschland gleichermaßen renommierten Mediävisten, der im Rahmen seiner zahlreichen Publikationen zum Spätmittelalter seit über einem Jahrzehnt immer wieder auch Veröffentlichungen über Karl IV. vorgelegt hat, darunter – zusammen mit Jean-Claude Schmitt – 2010 eine kommentierte Edition und Übersetzung der Autobiografie dieses Herrschers sowie einen 2019 in der »Francia« erschienenen Aufsatz »1378–2018: Charles IV un Européen?«, der auf einen Festvortrag aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des DHIP zurückgeht1. Sein hier anzuzeigendes Werk zeugt einmal mehr von der Kenntnis und Kompetenz eines von der französischen Geschichtswissenschaft geprägten, heute an der Pariser EHESS tätigen Gelehrten, der zugleich seit Langem in die deutsche historische Wissenschaftskultur integriert ist, so als Direktor des Frankfurter Institut franco-allemand des sciences historiques et sociales bzw. von dessen Vorgänger in Göttingen.

Die gesamte einschlägige deutsche und französische Forschung findet sich in diesem Werk verarbeitet, wobei dem französischen Faktor bei Karl IV. besonderes Gewicht eignet, da dieser Wenzel, Spross des frankreichnahen Hauses der Luxemburger, am französischen Hof prägende Jugendjahre verbrachte, dort den Namen seines königlichen Firmpaten annahm, eine Valois-Prinzessin ehelichte und sich später als böhmischer und römisch-deutscher Monarch in Regierung und Administration wie in Kunst und Architektur immer wieder am westlichen Vorbild ausrichten sollte.

Mit dem Band wendet sich der Verfasser natürlich primär an ein frankofones Publikum, das geschichtsinteressiert, aber nicht unbedingt vom Fach ist, wobei er die unausgesprochene (und von anderen Autoren nicht immer eingehaltene) Vorgabe der Biografiereihe des Verlags Fayard einer Verbindung von literarischer Qualität und allgemeinverständlicher Präsentation des Sujets auf Höhe des heutigen Forschungsstands (»haute vulgarisation«) vorbildlich erfüllt. Mit Blick auf diese Leserschaft muss Monnet natürlich all jene sich von der französischen Monarchie abhebenden Eigenheiten und Besonderheiten des römisch-deutschen Reichs erklären, wozu ihm etwa die Bestimmungen der 1356 von Karl IV. erlassenen »Goldenen Bulle«, des über Jahrhunderte bis zum Ende des Alten Reichs gültigen Grundgesetzes, gute Gelegenheit bieten.

Sollte das Buch eine – wünschenswerte – Übersetzung ins Deutsche erfahren, bräuchte hier m. E. nichts geändert bzw. gekürzt zu werden, weil entsprechende Hinweise auch und selbst im deutschsprachigen Raum keineswegs mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Die geschickte Vermittlung von Grundlagen geht einher mit klug zusammenfassenden Erörterungen von Forschungsständen und -kontroversen und fügt sich zu einem angenehm zu lesenden Ganzen; das Fundament der Präsentation wie auch Weiterführendes mag der Spezialist den Anmerkungen entnehmen.

Ich will hier nicht den Gang der Darstellung im Einzelnen nachzeichnen und nur summarisch konstatieren, dass sämtliche Aspekte und Facetten des Lebens und der Welt Karls IV. thematisiert werden. Ob sich dabei des Autors fehlende Kenntnis des Tschechischen negativ ausgewirkt hat (vgl. S. 18), vermag ich nicht zu beurteilen, doch nach meinem Eindruck wurden gerade die über Prag und Böhmen handelnden Passagen mit besonderer Sorgfalt und Intensität verfasst. Hinzu kommt, dass tschechische Kollegen von Rang wie etwa František Šmahel ihre Publikationen auch in den westlichen Wissenschaftssprachen erscheinen lassen, und überdies nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemeinsame deutsch-tschechische Projekte wie noch 2016 die Prag-Nürnberger Karlsausstellung positive Wegmarken gesetzt haben.

Kritisch aber wäre der – sicher nicht dem Verfasser anzulastende - Umstand zu vermerken, dass die Bebilderung angesichts der im Text besprochenen Fülle künstlerischer Zeugnisse aus Karls Regierungszeit recht sparsam ausfällt. Und, wichtiger, warum werden die große Pest, die damit zusammenhängende Judenverfolgung und die Rolle Karls IV. hierbei nicht in einem eigenen Kapitel, ja nicht einmal in einem Unterabschnitt thematisiert? Wiederholt ist in der Darstellung natürlich von der Aachener Karlsbüste die Rede, als deren Stifter – nach der Ortstradition – gemeinhin Karl IV. angesehen wird: Missverstehe ich den Autor, dass der Herrscher vielmehr nur eine Wiederherstellung/Umarbeitung (»réfection«) in Auftrag gegeben haben soll (S. 229 u. ö.)? Schließlich fallen bei einem Werk dieses Umfangs zwangsläufig Corrigenda von Kleinigkeiten an: So wird e. g. die »Goldene Bulle« nicht 1400 erstmals als solche bezeichnet (S. 69), sondern schon in einer Abschrift des Dokuments aus dem Umfeld des Trierer Erzbischofs Kuno von Falkenstein (1363–1388)2.

Doch zum Kern der Dinge: Was machen Eigenart und Wert dieser Biografie aus? Eines ihrer beiden Leitthemen heißt »Memoria«. Ausführlich behandelt der Autor die eigenen Bemühungen des Kaisers um sein Nachleben, die von seiner Autobiografie und weiteren Schriften über die Arbeiten der Parlerwerkstatt bis zum Bau der Burg Karlstein reichen. Zudem verstand sich Karl durch seine zahlreichen Portraits auf Propaganda in eigener Sache3. Mit seiner Prager Universitätsgründung und dem Collegium Carolinum setzte er sich ein Monument in der Tradition des Stauferkaisers Friedrich II. bzw. der Pariser Sorbonne, mit seiner legendären Reliquiensammlung – so Monnets ansprechende These – strebte er vielleicht den Status eines heiligen Königs an, und mit vielen Bauten machte er seine Hauptstadt zu jenem Goldenen Prag, dessen Strahlkraft bis in unsere Tage fortwirkt.

Ein Meister erfolgreicher Gedächtnispolitik: Der Held schafft seinen eigenen Mythos und schreibt sich mit seinen Stiftungen in die Ewigkeit ein. Andererseits lastet auf Karl der Vorwurf vieler, vor allem deutscher Geschichtsschreiber, über der Förderung Prags und Böhmens (die in der tschechischen Historiografie wiederum ein entsprechend positives Echo fand) das Reich vernachlässigt und dessen Güter verschleudert zu haben.

Solches Verdikt bleibt, insbesondere wenn es der reichskundige Enea Silvio Piccolomini/Pius II. formuliert (S. 282). Anschaulich auch wenig später der hanseatische Chronist Albert Krantz: Gerupft seien die Federn des Reichsadlers und befänden sich nunmehr in den Händen der Kurfürsten (S. 294). Und immer wieder begegnet das Cliché vom Pfaffenkönig und Erzstiefvater des Reichs: Karl IV. also ein wendiger und windiger Gschaftlhuber, der sich als geschickter Verhandler mit Geld und Privilegien die Macht im Reich und die Kaiserkrone in Italien sicherte? Oder im Gegenteil der Meister des Ausgleichs, der konsensualen Herrschaft4, der Kunst und Literatur förderte, den Krieg mied, mithin ein europäischer Friedensfürst?

Monnet spricht einmal – allerdings in anderem Zusammenhang mit den Frömmigkeitsformen der Zeit – vom »siècle de Charles IV« (S. 227). Doch scheint bei diesem Attribut Vorsicht geboten, denn wie oft hat man französischerseits vom »siècle de Charles V« gesprochen, Karls gerade einmal 16 Jahre regierenden Verwandten. Der Maßstab historischer Größe ist relativ – die Geschichte sollte das Epitheton »der Große« weder dem einen noch dem anderen Karl, sondern zwei weiteren Zeitgenossen mit europäischen Ambitionen, den Königen Kasimir III. von Polen und Ludwig I. von Ungarn, zuerkennen.

Womit das zweite Leitthema angesprochen wäre: Europa. Mit dem Untertitel des Buchs, das er sympathischerweise seinen beiden Kindern als »enfants d’Europe« widmet, skizziert Monnet Karl IV. im europäischen Rahmen, um im zitierten Aufsatz zu fragen: »Charles IV un Européen?« Vom Selbstverständnis her konnte Karl es nicht sein, denn der Begriff »Europa« wurde ja erst Mitte des 15. Jahrhunderts mit Enea Silvio Piccolomini/Pius II. zu einer inhaltlich gefüllten Kategorie im Kontext der Türkenabwehr als gemeinsamer Aufgabe der Wertegemeinschaft christlicher Staaten. Auch seine Verehrung Karls des Großen – Aachen zählte neben Nürnberg und Frankfurt zu den von ihm besonders privilegierten Orten im Reich – mochte eher auf die Wiederbelebung eines traditionsverwurzelten Patronats als auf eine Renaissance des karolingischen Großreichs zielen.

Ihm lag vielmehr am Auf- und Ausbau einer ostmitteleuropäischen Hausmacht mit Schwerpunkt im Osten des Reichs (vgl. S. 323), bei der, wie auch seine späteren Eheschließungen zeigen, die Befestigung der eigenen Dynastie und der corona Bohemiae im Vordergrund stand. Somit bewegte sich der heimatverbundene Kosmopolit nach unseren Maßstäben allenfalls im Rahmen eines Kleineuropas, wie es auch den Ambitionen der Könige von Polen und Ungarn entsprach und worin sich generell das zunehmende Gewicht dieses Raums gegenüber dem Westen und Zentrum des Kontinents spiegelt.

Fraglos gewannen aber Böhmen und vor allem Prag als Kern von Karls Hausherrschaft dank seiner Bindungen an Frankreichs Königtum und Kultur Anschluss an die Welt Alteuropas (um in der Neuzeit ein unwillig-integraler Bestandteil der habsburgischen Monarchie zu werden – das karolinisch-habsburgische Erbe ist heute noch an der Moldau im Wortsinn unübersehbar). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Karl gar Manches in seiner vielgestaltigen, mehrsprachigen Herrschaft misslang oder keine Fortsetzung fand, da sein unfähiger Sohn und Nachfolger binnen weniger Jahrzehnte große Teile des väterlichen Erbes verspielte.

Auch diese Negativa bis hin zu Karls Vereinnahmung in nationalistischen und nationalsozialistischen Zeiten erhalten in Monnets Bilanz ihren Platz; Schönheit und Scheitern liegen nahe beieinander. Der Autor ist ein aus der Distanz gewissenhaft abwägender Historiker, bei dem jedoch nach meinem Eindruck bisweilen eine gewisse – leicht nachvollziehbare – Sympathie für eine Persönlichkeit durchscheint, welche ein wacher und beweglicher Intellekt auszeichnete, der sie über sich und die Welt reflektieren ließ.

Geschickt in den Geschäften des Tages und die Geschicke weit über den Tag hinaus bedenkend, kurz: ein Weiser. So hat ihm denn ein französischer Chronist des ausgehenden 14. Jahrhunderts jenes Epitheton »sage« zuerkannt (mit dem ansonst des Öfteren sein großes Pariser Pendant Karl V. bedacht wurde): Et fut cestui empereur ung très grant sages homs et conquist plus l’empire par sens que par armes (S. 216).

Es gibt viele Biografien Karls IV., diese zeichnet sich über ihre Kompetenz in der Sache hinaus durch eine von distanzierter Sympathie getragene feinfühlige Annäherung an eine Persönlichkeit aus, deren Weisheit über die Jahrhunderte, so Monnet, die Züge der Parlerschen Karlsbüste im Triforium des Prager Veitsdoms spiegeln (S. 268f.). Die französische Geschichtswissenschaft hat ihre Annales-Tradition, aber auch eine in Kontinuität gepflegte Kunst der Biografie.

1 Pierre Monnet, Jean-Claude Schmitt (Hg., Übers., Komm.), Vie de Charles IV de Luxembourg, Paris 2010 (Classiques de l’histoire au Moyen Âge, 49); Pierre Monnet, 1378–2018: Charles IV un Européen?, in: Francia 46 (2019), S. 105–120.
2 Petra Schulte, Die Goldene Bulle und die Kurfürsten als Säulen des Reichs, in: Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Bernd Schneidmüller (Hg.), Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa [Ausstellungskatalog], Darmstadt 2020, S. 485.
4 Zur »Goldenen Bulle als Dokument konsensualer Herrschaft« jüngst Anne Kathrin Greule, Das Eingangsgedicht der »Goldenen Bulle« Karls IV. in der handschriftlichen Überlieferung, in: Deutsches Archiv 76 (2020), S. 97–150.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Pierre Monnet, Charles IV. Un empereur en Europe, Paris (Fayard) 2020, 398 p., 8 fig., ISBN 978-2-213-69923-3, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77425