Im Zuge der territorialen Expansion Frankreichs ab den Revolutionskriegen entsandten die Pariser Zentralbehörden einige Tausend Staatsbedienstete in Gebiete, die für wenige Jahre in das napoleonische Kaiserreich integriert oder zu Satellitenstaaten wurden. Für eine historisch kurze Zeitspanne war ein Drittel Europas zu einem französischen Rechts- und Verwaltungsraum geworden, in dem französische Beamte die juristische und administrative Vereinheitlichung des gesellschaftlich und kulturell höchst diversen Staatsgebildes des Grand Empire vorantrieben. Wie hat diese Gruppe von Staatsdienern den imperialen Moment Frankreichs erlebt und mitgestaltet? Was ist davon nach dem abrupten Zusammenbruch des napoleonischen Systems übriggeblieben?

Diesen Fragen geht Aurélien Lignereux in einer Kollektivbiografie nach, die eine Kohorte von Individuen untersucht, welche weder in der Selbst- noch in der Fremdwahrnehmung durch ihre Zeitgenossen eine zusammengehörige und klar identifizierbare Gruppe bildeten. Er nennt diese Gruppe die »Imperialen« und definiert sie als gebürtige Franzosen, die zwischen 1800 und 1814 öffentliche Ämter in den Gebieten jenseits der französischen Grenzen des Jahres 1792 ausgeübt haben, ausgenommen das Militär sowie das diplomatische und konsularische Personal (S. 15). Diese Imperialen dienen als analytische Kategorie, die es dem Autor erlaubt, sich dem »fait impérial« in der Geschichte Frankreichs jenseits der Fokussierung auf Politik und Krieg zu nähern.

Lignereux verortet sich damit in der »New Napoleonic History«, die das französische Kaiserreich als ein kollektives Unterfangen versteht, und schließt mit diesem Ansatz an seine früheren Arbeiten zur gesellschaftlichen Dimension des Premier Empire an. Der vorliegende Band ist aus seiner Habilitationsschrift hervorgegangen. Die Untersuchung stützt sich auf eine breite gedruckte und handschriftliche Quellenbasis, von der ausgehend der Verfasser 1500 Imperiale identifiziert und in ihrem Lebens- und Karriereweg nachverfolgt. Es gelingt ihm, auf Ebene der statistischen Auswertung gemeinsame Muster in den Lebensläufen aufzuzeigen, ohne individuelle Unterschiede zu relativieren, indem er immer wieder auch persönliche Werdegänge und Erfahrungen darstellt. Der Untersuchungszeitraum reicht über den Sturz Napoleons hinaus, weil die Mehrzahl der Imperialen unter der Restauration ihre Karrieren als Staatsdiener, Politiker oder Publizisten bis in die 1840er Jahre und in Einzelfällen darüber hinaus fortsetzten.

Der erste Teil der Darstellung untersucht den durch die Expansion veränderten Arbeitsmarkt. Die Verschiebung der Grenzen führte zu einem stetigen Zuwachs an staatlichen Posten und eröffnete einer jungen Generation karrierebewusster Staatsdiener neue Optionen und schnelle Aufstiegschancen. Dies trug zur Stabilisierung des napoleonischen Regimes bei, weil unterschiedliche soziale Gruppierungen – ehemalige Revolutionäre, deklassierter Adel, Anhänger verschiedener politischer Fraktionen – die Chance erhielten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden oder zu konsolidieren, manchmal dem sozialen Abstieg zu entgehen. Manche der Imperialen hatten bereits Auslandserfahrung, viele stammten aus Westfrankreich (Champagne, Elsass, Lothringen, Dauphiné) und verfügten über Fremdsprachenkenntnisse und interkulturelle Kompetenzen. Dennoch besaßen die meisten über ihre Dienstorte nur vages Wissen, hatten Vorurteile und mussten vor Ort einen Integrationsprozess durchlaufen, der nur Wenigen gelang. War der Aufenthalt fern der Heimat für viele ein Karrieresprung, so bemühten sie sich doch um eine schnelle Rückkehr: Im Durchschnitt verblieben die Imperialen nur sechs Jahre außerhalb der alten Grenzen. Prägend waren deshalb nicht die Dauer, sondern die geografische und kulturelle Entfernung und die damit verbundene Erfahrung der Fremde.

Der zweite Teil untersucht, wie die Imperialen das Empire und seinen Zusammenbruch erlebten. Oft richteten diese sich lediglich in einem Provisorium ein, litten an Heimweh, blieben unter Franzosen und knüpften nur oberflächliche Kontakte zu den Einheimischen. Lignereux zieht daraus eine Bilanz des Scheiterns: Das Empire blieb ein administratives und militärisches Gebilde, weil es den Imperialen nicht gelang, es gesellschaftlich zu verankern. Die Widerstände in der lokalen Bevölkerung, aber auch die Arroganz und mangelnde Integration der Imperialen standen einem langfristigen Erfolg im Weg.

Als die militärische Hoheit Frankreichs in Wanken geriet, richteten sie sich schnell auf eine Evakuierung ein. Den Zusammenbruch des Empire empfanden sie nicht als Verlust, da die meisten aufgrund ihrer kurzen Verweildauer und der oft großen kulturellen und sprachlichen Distanz nie in den ihnen anvertrauten Regionen heimisch geworden waren und nun deren Preisgabe um des Friedens Willen und zum Schutz Frankreichs vor weiterer Bedrohung bereitwillig akzeptierten. Nur eine kleine Minderheit der Imperialen verblieb nach 1814 im Ausland.

Der Abzug der Franzosen bedeutete jedoch für viele Imperiale nicht nur einen Einschnitt in der Karriere, sondern ging oft einher mit dramatischen persönlichen Erfahrungen von Flucht, Verlust des Arbeitsplatzes und drohendem sozialem Abstieg. Die Rückkehrer waren mit den politischen Umwälzungen und der Konkurrenz um Posten konfrontiert. Dennoch wurde nur ein Fünftel aus dem Dienst entlassen, über der Hälfte gelang die Wiederanstellung, die Restlichen begannen Karrieren außerhalb des Staatsdienstes. Nach 1814 ging es um die Anerkennung ihrer Leistung, ihren Platz in der Gesellschaft der Restauration und die geschichtliche Deutung des Kaiserreichs. Diese Aspekte behandelt der dritte Teil der Darstellung.

Für Lignereux waren die Imperialen »Männer des 19. Jahrhunderts«. Mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren am Ende des Empire waren sie jung genug für ein »zweites Leben«, in dem sie an der Konstruktion des Nationalstaats genauso aktiv mitwirkten wie zuvor an der des imperialen Staats. Sie stellten in den Jahren nach 1814 eine zahlenmäßig kleine, aber nicht einflusslose Minderheit dar: Zu verschiedenen Zeiten fanden sich 44 Imperiale im Staatsrat, acht dienten als Minister (S. 279), 75 wurden Abgeordnete, sieben wurden Senatoren (S. 324).

Welche Rolle spielte dabei ihre erworbene Erfahrung? Lignereux spricht in Anlehnung an Bourdieu von einem imperialen Kapital, das sich aus den geknüpften Kontakten sowie einer Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten zusammensetzte. Dazu zählte neben der administrativen Kompetenz auch eine technische und wissenschaftliche Expertise, zum Beispiel im Bergbau oder in der Forstwirtschaft, wo die Imperialen maßgeblichen Anteil am Wissenstransfer aus Belgien, dem Rheinland oder Westphalen hatten. Ebenso fand das Wissen über ferne Gegenden Niederschlag in einer regen publizistischen Tätigkeit in Form von Memoiren, Reiseberichten, statistischen Abhandlungen etc., die die Künste und Wissenschaften in Frankreich bereicherten. Eine Würdigung fand die Leistung aus den Jahren 1800–1814 jedoch oft erst in der zeitlichen Distanz, ablesbar in den Nekrologen der Imperialen.

Lignereux’ Untersuchung der Imperialen ist keine Arbeit zur französischen Herrschaftspraxis in den von Frankreich besetzten Gebieten, sondern ein Beitrag zur Sozialgeschichte Frankreichs. Der Autor zeigt in gelungener Weise, wie die maßgeblichen Akteure des Grand Empire die Jahre 1800 bis 1814 erlebt haben und welche Brüche und Kontinuitäten der Zusammenbruch des Kaiserreichs in ihren Biografien bedeutete. Anhand dieser Gruppe gelingt es ihm, den leicht zu übersehenden Nachwirkungen des Empire im Frankreich des 19. Jahrhunderts nachzuspüren. Nicht zuletzt vermittelt er außerdem einen bereichernden Blick auf das Premier Empire jenseits von Napoleon, seinen Ministern und Generälen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sven Ködel, Rezension von/compte rendu de: Aurélien Lingereux, Les Impériaux. Administrer et habiter l’Europe de Napoléon, Paris (Fayard) 2019, 426 p., 5 tab., 18 ill. (Histoire), ISBN 978-2-213-71029-7, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77557