Was haben Sie zuletzt von Donneau de Visé gelesen? Einem größeren, selbst universitären Publikum wird diese Frage ungewöhnlich erscheinen, schließlich gehört der Genannte nicht zum klassischen Repertoire der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Daran wird auch die hervorragende Studie von Christophe Schuwey nichts ändern. Ihm geht es aber auch gar nicht darum, Donneau de Visé aus dem Fegefeuer »kleiner« Autoren zu befreien. Schuweys Erkenntnisinteresse gilt vielmehr jenen Schreib- und Publikationspraktiken unter Ludwig XIV., die mit den üblichen Analysekategorien der Literaturwissenschaft nur schwer zu erfassen, dabei jedoch im höchsten Maße signifikant für ein historisches Verständnis von Literatur sind.

Sie zwingen uns, die Selbstverständlichkeit zu hinterfragen, mit der wir bestimmte Werke im Unterschied zu anderen als zeitlos (und damit häufig als per se interessant) betrachten. Es ist also keineswegs Schuweys Absicht, den Gründer des »Mercure galant« zum neuen literarischen Klassiker aufzubauen. Sein Ziel ist es, anhand eines konkreten Falls Verfahren des Literarischen herauszuarbeiten, die unseren Blick für das Gewordensein dessen schärfen, was wir als Literatur bezeichnen.

Neben den frühen Ausgaben des »Mercure galant« umfasst das Textkorpus der Studie Theaterstücke Donneaus ebenso wie seine mehrbändigen Prosawerke mit den Titeln »Nouvelles Nouvelles«, »L’Amour échappé« und »Nouvelles galantes, comiques et tragiques«. Sein Umgang mit diesen Werken wird als derjenige eines Unternehmers konzeptualisiert, was sich zwar auch durch die Analogie zur Moderne, in erster Linie jedoch vor dem Hintergrund der Politik Ludwig XIV. rechtfertigt. Anders als es nach wie vor virulente Annahmen der Forschung nahelegen, begünstigt diese Politik nämlich den esprit d’entreprise jedes einzelnen, vorausgesetzt, er überschreitet nicht dem seiner Person angemessenen gesellschaftlichen Rahmen.

Schuwey wählt die Bezeichnung »entrepreneur des lettres« daher mit Bedacht, um die Entwicklung eines homme de lettres zum mächtigen Herausgeber des »Mercure galant«, d. h. des zentralen Publikationsorgans der königlichen Propaganda nachzuvollziehen. Grundlage für diesen Aufstieg ist ihm zufolge der modulare Konsum von Literatur, wie er sich beispielsweise in der Beliebtheit sogenannter recueils niederschlägt. Eine weit verbreitete, die Lektüre einer kritischen Masse von Leserinnen und Lesern strukturierende Einheit ist nicht das mit dem Buch identifizierte Werk, sondern la pièce, d. h. Texte unterschiedlicher Gattungen, die sich nicht nur durch ihre (relative) Kürze, sondern auch durch ihre Unabhängigkeit von einem bestimmten medialen Träger auszeichnen.

Ihr Wert für den literarischen Unternehmer liegt in ihrer Verfügbarkeit. Schuwey spricht von einem regelrechten »marché des pièces«, der es Autoren und Herausgebern erlaubt, auf die Aktualität zu reagieren und auch noch in letzter Minute vor dem Druck einzelne Stücke in den Gesamttext zu integrieren. Um für den Herausgeber interessant zu sein, dürfen diese Stücke auch bereits seit Längerem in der Gesellschaft zirkulieren, vorausgesetzt sie geben dem Publikum Gelegenheit, sie vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse neu zu lesen. Von Anfang an spielt Donneau somit meisterhaft auf der Klaviatur der Aktualität, die er mit einem feinen Gespür für die sozialen Gefüge seiner Leserschaft ausnutzt und stimuliert. Sein Schreiben orientiert sich nicht an poetologischen Normen, sondern greift gesellschaftliche Impulse auf, um sie additiv und strategisch einzusetzen.

Seine Werke, die der klassischen Werkästhetik diametral entgegenstehen, sind komplexe Produkte, die eine enge Verzahnung von sozialen, wirtschaftlichen und literarischen Interessen sichtbar werden lassen. So heterogen diese Produkte auf den ersten Blick also wirken mögen, liegt ihnen doch eine gemeinsame Funktionslogik zugrunde, die maßgeblich auch für den Erfolg des »Mercure galant« verantwortlich ist.

Dem »Mercure« widmet Schuwey den letzten Teil seiner Studie. Hier unternimmt er nichts weniger als eine Neubestimmung des Periodikums auf der Grundlage der editorischen und literarischen Praxis, wie er sie zuvor anhand einer Vielzahl von Werken analysiert hat. Von der Literaturgeschichtsschreibung allzu oft als eine Frühform des people-Journalismus abgewertet, ist der »Mercure galant« nicht zu verstehen, wenn man an der modernen Unterscheidung zwischen Buch- und Zeitungswesen festhält. Vielmehr ist er die logische Fortsetzung dessen, was Donneau seit den Anfängen seiner literarischen Karriere immer erfolgreicher umzusetzen weiß, nämlich eine elastische Form für Inhalte, die von einem heterogenen Lesepublikum aus unterschiedlichen Gründen nachgefragt werden.

So ist der »Mercure« zunächst – zumal in seiner ersten Erscheinungsperiode von 1672–1674 – von einem recueil kaum zu unterscheiden. Erst durch die Protektion des Kronprinzen entwickelt sich sein unverwechselbares Profil. Als wichtigstes historiografisches Instrument der Selbstherrschaft Ludwigs XIV., das im permanenten Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern einen regelrechten salon de papier hervorbringt, dient der »Mercure«zugleich dem Adel als Hyperstruktur seiner familiären Archive, in denen die memorablen Taten seiner Angehörigen festgehalten werden. Indem es Donneau de Visé gelingt, verschiedene gesellschaftliche Kreise an seinem Unternehmen zu beteiligen, erzeugt er die Nachfrage nach einem kontinuierlichen roman fleuve, der den früheren heroisch-galanten Roman in den Schatten stellt, ohne ihm dabei völlig unähnlich zu sein. Schon »Artamène« oder »Clélie« erfreuten sich schließlich dank ihres referentiellen Potentials beim Hochadel großer Beliebtheit, ohne darum andere Publikumskreise auszuschließen.

Mit analytischer Schärfe durchdringt Schuwey ein höchst vielfältiges Material, das keineswegs am Rand sondern im Herzen der sogenannten Hochklassik anzusiedeln ist. Dabei wird immer wieder deutlich, wie sich performative und referentielle Eigenschaften literarischer Texte durchdringen. Donneau de Visé ist ein sehr erfolgreicher, deswegen aber nicht weniger paradigmatischer Fall: Er bindet sein Publikum an sich, indem er dessen soziale Räume so geschickt spiegelt, dass deren Verwerfungen dadurch hervorgehoben, zusammengehalten oder auch verschoben werden können. In vier aufeinander bezogenen Großkapiteln zeigt Christophe Schuwey anhand unterschiedlicher Werke – darunter auch Klassiker wie die »Caractères« von Jean de La Bruyère –, dass dieser Modus Operandi kein Einzelfall ist. Im Dialog mit aktuellen Entwicklungen auf den Gebieten der sozialhistorischen und literaturwissenschaftlichen Forschung präpariert er die faszinierende Struktur einer epochenspezifischen Handlungslogik heraus. Deren Nachvollzug – und dies sei angesichts der Tendenz, sich in den Literaturwissenschaften immer stärker auf die jüngste Vergangenheit zu konzentrieren, hervorgehoben – trägt entschieden zu einem höchst lebendigen Verständnis der französischen Klassik bei.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stephanie Bung, Rezension von/compte rendu de: Christophe Schuwey, Un entrepreneur des lettres au XVIIe siècle. Donneau de Visé, de Molière au »Mercure galant«, Paris (Classiques Garnier) 2020, 552 p., nombr. ill. (Bibliothèque du XVIIe siècle, 36. Série Discours critique, 2), ISBN 978-2-406-09570-5, EUR 58,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77558