Der vorliegende Sammelband gibt die Vorträge bei einer Tagung zum Luthertum im historischen Ungarn und Siebenbürgen wieder, die 2012 im Evangelischen Stift in Tübingen stattfand, Vorangegangen war eine Tübinger Tagung zum Reformiertentum in dieser Region, deren Vorträge auch in »Francia-Recensio« besprochen wurden. Ebenso erschien dann 2019 der Sammelband über den nachtridentinischen Katholizismus in Ungarn und Siebenbürgen.
In 27 Beiträgen versuchen deutsche, österreichische, slowakische, slowenische, , österreichische und ungarische Autor*innen die wechselnde Bedeutung von Sprache und Konfession im Donau- und Karpatenraum während Reformationszeit und den folgenden Jahrhunderten anhand vielfältiger Quellen und Dokumente aufzuzeigen. Dazu gehören nicht nur Bibliothekskataloge, Briefe, kirchliche Protokolle u.ä., sondern auch (allerdings nur schwarz-weiße) Abbildungen und Karten. Der Band bewirkt so eine sehr fundierte neue Sicht auf diese wichtige Region Europas.
Die Aufsätze sind unter sechs große Überschriften zusammengefast:
Reformation, Konfessionsbildung und Kirchenverfassung
Volker Leppin zeigt auf, wie die Reformation in Siebenbürgen sich hauptsächlich auf Melanchthon bezog (Consensus doctrinae 1557), Edit Szegedi entfaltet dies unter Hinweis auf Streitigkeiten mit und schließlich Abgrenzung von den (Krypto)calvinisten, Ulrich A. Wien beschreibt die politische Dimension des Siebenbürger Sonderwegs, der sich etwa im 18. Jahrhundert auch stark mit dem Pietismus auseinandersetzen musste, aber Wittenberg eng verbunden blieb; die lutherische Reformation in der westungarischen Grenzregion (Burgenland) beschreibt Rudolf Leeb. Dort wurde etwa für Kroaten die Postille des württembergischen Reformators Johannes Brenz ins Mischkroatische übersetzt; dass Migration in der Vergangenheit und in der von der Herausgeberin Marta Fata untersuchten Region (hier jetzt speziell die Batschka und das fruchtbare Syrmien) oft ein Teil des Lebens bzw. des Überlebens war-, kann sie detailreich nachweisen, mit einer Widerlegung von Max Webers These, da auch »katholische Siedler Arbeitseifer und Streben nach materiellem Erfolg zeigten! (S. 158)«
Bildung Gelehrsamkeit
In den ungarländischen Bibliotheken von Adligen, Gelehrten oder Schulen verortet Istvan Monok den Einfluß von Luther und besonders von Melanchthon; die Donau verbindet die Stadt Lauingen mit Pressburg, auch in der lutherischen Konfessionsbildung, wie Reinhard H. Seitz zeigt; die Auseinandersetzung mit dem Pietismus in Ungarn untersuchen Peter Konya und Eva Kowalská und Markus Gerstmeier.
Sprache, Konfession und Nationsbildung
Wie unterschiedlich in den Jahrhunderten nach der Reformation Sprache und Konfession an Bedeutung jeweils gewannen, untersuchen Zoltán Csepregi für Ungarn und France M. Dolinar bei den Slowenen. Die schwere Zeit der Protestantenverfolgung in der »Trauerdekade« (1671–1681) endete eigentlich erst 1781 durch das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. Das dann allmählich aufblühende Luthertum beschreiben Mátyás Kéthelyi für Ofen-Pest, Peter Soltés für die Slowaken; neben Sprache und Konfession verband sich im 19. Jahrhundert damit die Nation als bestimmender Faktor in Ungarn und Siebenbürgen, in diesem Gebiet Habsburgs bekam dann »Freiheit«eine besondere Bedeutung und führte zur niedergeschlagenen Revolution 1848/1849 (Botond Kertész). Dass daneben »Volkskirche« in Siebenbürgen zum nationalen Mythos wird, erklärt die 2016 verstorbene Historikerin Krista Zach.
Erscheinungsformen des kirchlichen Lebens
Vom Drucker und Zeichner Jakob Lucius dem Älteren, »Vater der Klischeeherstellung«, berichtet Gyula Papay; außer reformatorischen Druckwerken waren und sind daneben die Kirchengebäude immer auch Ausdruck des Glaubens: für Ungarn im 17. Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts erläutert dies die Herausgeberin des Bandes, Márta Fata. Entsprechend den Repressionen der Habsburger (»Trauerdekade«!), gab es »Artikularkirchen« (nach dem einschränkenden Artikel des Landtags), bescheidene »Heckenkirchen« und nach dem Toleranzpatent Josephs II. die aus Stein gebauten »Toleranzkirchen«. Im Innern sind die Kirchen meist mit Kanzelaltären gebaut, sowie mit oft mehrstöckigen und bildergeschmückten Emporen versehen, schreibt Béla László Harmati.
Wonach darin gesungen wurde, untersucht Gabriella H. Hubert, indem sie die lutherischen wie auch reformierten Gesangbücher in Ungarn vergleicht und kommt zum Schluss, dass im 16. Jahrhundert die Sprache, im 17. dagegen die Konfession entscheidend für die Identität ist. Timea Benkö schreibt, wie Josef II. zwar tolerant gegenüber den Evangelischen war, aber doch am liebsten den Gottesdienst (aufklärerisch) vereinheitlichen wollte. Dies führte 1784 zu dem viel diskutierten Pressburger Agendenentwurf, der aber letztlich scheiterte.
Luther-Reliquien, Reformationsjubiläen und -darstellungen
Das Budapester Evangelische Landesarchiv besitzt Martin Luthers handschriftliches Testament von 1542 – den verschlungenen Weg von Wittenberg nach Budapest zeichnen Miklós Czenthe und die Herausgeberin Márta Fata nach. Zu den anschließenden Abbildungen mit Lutherstatuen und -bildern berichten sie über die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Reformator im Lauf der Jahrhunderte.
Luther und die Evangelisch-Lutherischen im Donau- und Karpatenraum (einst und heute)
Unter diesem Titel versucht Karl W. Schwarz, darzustellen, wie trotz Habsburger Widerstand, trotz Nationalismus und zwei Weltkriegen, es den Evangelisch-Lutherischen doch gelang, den Fortbestand ihrer Kirche zu sichern: dazu trug besonders 1821 die Gründung der späteren evangelisch-theologischen Fakultät bei, die für den Pfarrernachwuchs sorgte. Sie wurde 1922 endlich in die Universität Wien integriert.
Während des Kommunismus in dieser Region entstand 1973 der Europäische Theologenkongress (»Wiener Kongress«) sowie die Lehrgespräche der Leuenbergkirchen. Nach dem Ende des Kommunismus wurde 1990 die Donau-Kirchen-Konferenz gegründet, 1996 der Südostmitteleuropäische Fakultätentag für Protestantische Theologie (SOMEF).
Zusammenarbeit im Donauraum ist nicht möglich ohne die Vergangenheit mit ihren Verletzungen und Unterdrückungen sichtbar zu machen, um dann eine versöhnte gemeinsame Zukunft in Südosteuropa zu ermöglichen. Dazu braucht es »healing of memories«, wie es in Rumänien von Seiten der betroffenen Kirchen bereits angewandt wurde. Karl W. Schwarz endet mit dem Wunsch, dass die Tagung zum »healing of memories« im Donau- und Karpatenraum beitragen mögen – dies wünscht man dem Tagungsband ebenso, heute noch mehr als im Tagungsjahr 2012!
Neben den ausführlich kommentierten Abbildungen findet sich am Schluss des Buches auch ein Ortsnamen-, Personen- und Abbildungsverzeichnis.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Elisabeth Schneider-Böklen, Rezension von/compte rendu de: Márta Fata, Anton Schindling (Hg.), unter Mitarbeit von Markus Gerstmeier, Luther und die Evangelisch-Lutherischen in Ungarn und Siebenbürgen. Augsburgisches Bekenntnis, Bildung, Sprache und Nation vom 16. Jahrhundert bis 1918, Münster (Aschendorff) 2018, 820 S. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 167), ISBN 978-3-402-11599-2, EUR 78,00., in: Francia-Recensio 2020/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.4.77617