Landläufig werden Schriftrollen in Europa vor allem mit der antiken oder jüdischen Schriftkultur in Verbindung gebracht. Das Mittelalter gilt demgegenüber als Zeitalter des Kodex. Trotz des in der Forschung häufig betonten »Siegeszugs des Kodex« in der Spätantike kannte das Mittelalter die Schriftrolle als Aufzeichnungsform für eine Vielzahl an Textsorten und Gebrauchskontexten. Dass das europäische Mittelalter mitnichten eine allein auf dem Buch basierende Schriftkultur war, demonstriert der von Étienne Doublier, Jochen Johrendt und Maria Pia Alberzoni herausgegebene Tagungsband vornehmlich anhand deutscher und italienischer Fallbeispiele. Letztere bewegen sich in der »Hochphase des Rotulus«, von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts.

Im Zentrum des Sammelbands steht die Frage, wieso die mittelalterlichen Zeitgenossen auf Schriftrollen zurückgriffen, wenn ihnen bspw. auch Wachstafeln oder Kodizes zur Verfügung standen (S. 13). In vier unterschiedlich stark gewichteten Sektionen untersuchen 20 Autoren Rotuli auf ihren Inhalt, ihre Entstehungs- und Nutzungszusammenhänge sowie besonders ihre Materialität. Den Schwerpunkt bildet dabei der administrative Kontext, dem insgesamt 14 Beiträge gewidmet sind. Dies überrascht keineswegs, hat sich doch ein Großteil unserer Rollenüberlieferung aus diesem Umfeld erhalten.

Eine finale und eindeutige Beantwortung der Kernfrage des Bands nach dem Warum bleibt am Ende der Lektüre aus. Dies ist gar nicht anders zu erwarten, sind pauschale Antworten, wie sie in der Forschung bislang zumeist vorgebracht wurden und nach denen Rotuli aufgrund ihres leichten Transports oder ihrer einfachen Handhabung gewählt worden wären, zu differenzieren. Die Vielfalt der überlieferten Rollenformate und die Diversität ihrer Gebrauchskontexte ist zu groß, als dass man die Wahl der Aufzeichnungsform unter einem einzigen Nenner bündeln könnte.

Um den Rollengebrauch der mittelalterlichen Zeitgenossen begreifen zu können, ist meines Erachtens ein praxeologischer Zugang erforderlich, der die gesamte Überlieferung eines Individuums oder einer Institution in den Blick nimmt. Ein solcher Ansatz wird in vielen Beiträgen verfolgt. Gleichwohl finden sich in einigen Aufsätzen weiterhin recht pauschale Hinweise auf die Transportvorteile der Rolle gegenüber dem Kodex (Barbara Bombi, Riccardo Parmeggiani, Pietro Maria Silanos, Alberto Spataro, Bastian Walter-Bogedain, Annafelicia Zuffrano). Aus meiner Sicht ist das Transport-Argument in seiner Pauschalität nicht haltbar, gab es doch nicht allein kleinformatige Rollen oder schwere, in Holzdeckel gebundene Kodizes, sondern ebenso große und unhandliche Rollen wie auch flexible und leichte Hefte (siehe dazu auch Nine Miedema). Es muss im Einzelfall überprüft werden, ob die materiale Beschaffenheit der in einer Verwaltung oder von einem Schreiber verwendeten Rotuli einen Transportvorteil gegenüber den Kodizes aus demselben Kontext bedingen.

Überdies konnten einige Forscherinnen und Forscher aufzeigen, dass die Wahl der Rolle als Aufzeichnungsform nicht allein auf materialen Beweggründen fußte. Stellenweise griff man aufgrund bewusst oder unbewusst fortgeführter Routinen und Traditionen auf Rotuli zurück (Barbara Bombi, Riccardo Parmeggiani). Häufig wurden Schriftrollen auch in der lokalen Verwaltung, für begrenzte Räume oder eine Textsorte bzw. kleine Textmengen genutzt, während man in der zentralen Verwaltung oder für umfassende Informationssammlungen Kodizes heranzog (Lucia Dell’Asta, Jochen Johrendt, Christian Lackner).

Nicht zuletzt beeinflusste in vielen Fällen der Entstehungsprozess der Schriftstücke die Wahl der Aufzeichnungsform nachhaltig, sei es bei der Zusammenstellung einzelner Rechnungsdokumente auf Einzelblättern in (Sekundär-)Rotuli (Mark Mersiowsky) oder bei der Komposition und möglichen Wiederverwendung von Urkundenkompilationen (Lorenza Iannacci, Miriam Rita Tessera). Teilweise war die Materialität eben doch ausschlaggebend für die Wahl der Form. Denn anders als bei dem aus Lagen geformten Kodex musste bei der Produktion von fortlaufenden Rollen kaum auf die Struktur geachtet werden; man konnte die Texte vielmehr fortschreiben und je nach Bedarf neue Membranen annähen oder ankleben (Barbara Bombi, Étienne Doublier). Der Rotulus war in der Herstellung demnach flexibler als ein Kodex.

Dass Rollen stets günstiger zu produzieren waren als Kodizes – wie in der Literatur stellenweise zu lesen – ist als Argumentation nicht überzeugend. Dafür gab es wesentlich zu viele unterschiedliche Pergament- und Papierqualitäten, ganz zu schweigen vom Einband (Holzdeckel, Kopert) oder der Ausführung der Schrift und Miniaturen. Rollen konnten günstiger sein; genauso häufig waren sie aber auch teurer als Kodizes, wenn bei ihnen bspw. lediglich eine Seite der Membran beschrieben wurde (Paolo M. Galimberti). Das Kostenargument muss daher im Einzelfall mit Blick auf die Kontextüberlieferung überprüft werden; ganz so, wie dies bei den meisten anderen Argumenten rund um die Wahl der Aufzeichnungsform auch der Fall ist.

Einen letzten wichtigen Zugang zu den Rotuli ermöglicht die Untersuchung der Nutzungskontexte. Schriftrollen ermöglichten durch ihre Materialität nicht allein die wirkmächtige Präsentation einer Kontinuität – wie z. B. bei genealogisch-historiografischen Texten häufig beabsichtigt (Elena Vanelli) – sie hatten durchaus auch einen gewissen performativen Charakter, so z. B. vor Gericht (Maria Silanos). Und schließlich war bei Kodizes das Nachschlagen spezifischer Informationen einfacher und effektiver als bei fortlaufenden Rotuli (Paolo M. Galimberti).

Diese Vielfalt an Gründen für die Wahl der Rolle unterstreicht die zentrale Aussage von Miedema, »dass es [nämlich] keine einheitliche Gebrauchsfunktion der Rotuli gibt« (S. 48). Vielmehr muss man je nach Verwendungskontext und Textsorte die Frage nach dem Warum immer wieder neu stellen. Daher ist es verständlich, wenn die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen, dass es nicht das Ziel des Sammelbandes sein kann, eine Synthese des Rollengebrauchs im europäischen Mittelalter zu geben (S. 13). Gleichwohl hätte ich mir ein Fazit gewünscht, das die wichtigen Einzelbeobachtungen der Beiträge in Kernthesen bündelt, um so die (grund-)wissenschaftliche Diskussion über die unterschiedlichen Aufzeichnungsformen noch stärker anzuregen, als dies der sehr wichtige Sammelband von Étienne Doublier, Jochen Johrendt und Maria Pia Alberzoni sicher tun wird.

Für die zukünftige Erforschung von Rotuli wünsche ich mir dreierlei: erstens, dass man zu einer einheitlichen Begrifflichkeit hinsichtlich ihrer Analyse und Beschreibung gelangt; zweitens, dass man den zeitlichen Rahmen erweitert und nicht mehr allein die »Hochphase der Rotuli« (1150–1350) in den Blick nimmt, sondern demgegenüber gerade auch jene Zeiten untersucht, in denen scheinbar keine oder kaum mehr Schriftrollen genutzt wurden; und drittens, dass man die grundwissenschaftlich fundierten Einzelstudien aus den unterschiedlichen Regionen zusammenführt, um dadurch zu einem besseren Verständnis der vormodernen Schriftlichkeit auf einer europäischen Ebene zu gelangen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stefan G. Holz, Rezension von/compte rendu de: Étienne Doublier, Jochen Johrendt, Maria Pia Alberzoni (Hg.), Der Rotulus im Gebrauch. Einsatzmöglichkeiten – Gestaltungsvarianz – Deutungen, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2020, 464 S., 35 s/w, 34 farb. Abb. (Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde. Beiheft, 19), ISBN 978-3-412-51802-8, EUR 59,99., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79500