»Den Streit wagen!« empfiehlt die schweizerische Theologin Béatrice Acklin Zimmermann sowohl Kirche als auch Gesellschaft gleich zu Beginn des vorliegenden Bandes. Letzterer ist allerdings nicht dem von ihr diagnostizierten Verlust an Streitkultur der Gegenwart gewidmet, sondern den vielfältigen Disputgeschehnissen und -ereignissen im Reformationszeitalter. Dieses war geprägt von existenziellem Ringen und erbitterten Kämpfen um Fragen nach Gott und Wahrheit, Glaube und Kirche. Auch wenn just diese Themen heute eher scheintolerantes Achselzucken denn schroffe Auseinandersetzungen hervorrufen, ist das Reformationszeitalter ein lohnender Untersuchungsgegenstand für die Frage, was Rolle und Gestalt von Streit sein können. Dies umso mehr, als heutige Streitfragen die genannten Themen in veränderter und oft indirekter Konstellation und Form beinhalten können, etwa im Bereich des religiösen Pluralismus, und umso schwieriger zu behandeln sind, je sprachloser die Beteiligten ihnen gegenüber sind.
Der Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung, die die Gesellschaft zur Herausgabe des »Corpus Catholicorum« und der Freiburger Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte gemeinsam mit der dortigen Katholischen Akademie 2017 veranstaltet hat. Er illustriert eindrücklich die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer verstärkten Forschung zum Reformationszeitalter, die derzeit nicht unbedingt im Fokus der Theologie liegen.
Grundsätzlich kann als ein zentrales Ergebnis festgehalten werden, dass sich Position(en) und Gegenposition(en) im Reformationszeitalter in einem komplexen Prozess auseinander- bzw. gegeneinander entwickelt haben, in dem mehr und mehr die Verstetigung dieser Entwicklung die expliziten und impliziten Verbindungslinien bis zur Unkenntlichkeit überlagert haben. Dies mag für das Reformationszeitalter und die dabei entstehenden Konfessionskulturen keine neue Erkenntnis sein. Sie ist jedoch nicht zuletzt im heutigen ökumenischen Gespräch unmittelbar von Bedeutung, gerade auch im Hinblick auf die Frage, wie die genannten Themen »Gott und Wahrheit«, »Glaube und Kirche« in gesellschaftlicher Relevanz und Verantwortung für das Gemeinwohl zu thematisieren sind.
Mit Blick auf das Verhältnis von Theologie und Geschichtswissenschaft gelingt es dem Band, durch den Untersuchungsgegenstand der Disputation einen zentralen Aspekt der genannten Frage interdisziplinär in den Blick zu nehmen und dabei vielfältige Nuancen – Frömmigkeit, Theologie, Politik, Recht, Wissenschaftsverständnis und indirekt auch Psychologie – zu verschränken. Mit dem titelgebenden Begriff »altgläubig« und dem ihm korrespondierenden Begriff »reformatorisch« positioniert sich der Band in entsprechenden Diskussionen dahingehend, dass »die Entwicklung vor der Konfessionsbildung […] als eigenständige Phase« (S. 2, Anm. 1) ausreichend Beachtung finden soll. Anders akzentuiert dies übrigens auch in diesem Band Bent Jörgensen, der schon die Reformationsparteien mit den heute gängigen Konfessionsnamen »(römisch-)katholisch«, »(evangelisch-)lutherisch« und »(evangelisch-)reformiert« bezeichnen möchte (S. 343).
Der Freiburger Dogmatiker und Dogmengeschichtler Peter Walter, der zwischen der von ihm mitverantworteten Tagung und der Drucklegung des nun seinem Andenken gewidmeten Bandes unerwartet früh verstarb, führt zunächst in die mittelalterliche universitäre Praxis der disputatio ein. Er kann dabei aufzeigen, wie diese ursprünglich der Verständigung und Wahrheitssuche dienende Form von »Forschung und Lehre in ein und demselben Akt« (S. 27) allmählich an ihre Grenzen kam und im 16. Jahrhundert mehr und mehr »der Stärkung des jeweiligen Gefolges« (S. 45) diente. Diese allgemeine Tendenz, in der Ausnahmen die Regel bestätigen, wird in den verschiedenen Beiträgen perspektivisch konturiert.
In diesem Sinn zeigt Kenneth Appold, wie die Disputation zu einem Spezifikum lutherischer Orthodoxiebildung wurde, damit aber auch einen ekklesiologischen Methodenstreit auslöste und den theologisch-konfessionellen Gegensatz zu den Altgläubigen verstärkte. Axel Gotthard weist nach, dass dieser Gegensatz auf die politischen Rahmenbedingungen dahingehend zurückwirkte, dass die dort generierten Klärungsversuche der Wucht der Wahrheitsfrage nicht gewachsen waren und diese in umso heftigere konfessionelle Abgrenzung mündete; Andreas Sohn und Peter Walter (in seinem zweiten Beitrag zu diesem Band) dokumentieren die Spannung zwischen universitärer Lehre und kirchlichem Lehramt, indem sie zeigen, wie sich das Schwergewicht von der Universität in Paris zum Papst in Rom verlagerte und dadurch langfristig dessen lehramtliche Rolle befördert wurde. Gabriele Jancke und Christoph Moos wiederum schreiben in ihren Beiträgen die akademisch-theologischen Fragen in einen soziologischen Zusammenhang ein, indem sie Patronage, Freundschaft und Feindschaft als (zunächst bzw. scheinbar) nichttheologische Faktoren ausmachen, die das konfessionelle Auseinanderstreben nicht unerheblich beeinflussten. Der methodisch anspruchsvolle Beitrag zu Gelehrtennetzwerken von Markus Vriedt, der auf Analogien zwischen Konstellationsforschung und Foucault’scher Diskursarchäologie hinweist (S. 240), stellt die nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zentrale Frage, »wer denn in der Mitte es 16. Jahrhunderts diese Kontroversen wahrgenommen und ausgefochten hat und in welcher Weise die Diskursgegner über Heimatgruppen verfügten, um deren Identität sie stritten« (S. 237). An dieser Stelle lässt sich freilich noch die Fraga anfügen, wie sich akademische und alltägliche, politische und konfessionelle Aspekte der sich bildenden Konfessionskulturen zueinander verhielten. Vriedts eher struktureller Zugang wird ergänzt durch Wilbirgis Klaibers Beitrag zum Kontroverstheologen Johannes Nas, dessen Selbstwahrnehmung sie hinter sich wandelnden historiographischen Zuschreibungen freilegt. Die Unübersichtlichkeit der Disputations- und Kommunikationslandschaft des Untersuchungszeitraums erscheint hier geradezu personifiziert. Wie Andreas Tacke im Bereich der Kunst zeigt, ist diese Unübersichtlichkeit durchaus ein Faktor, der die Grundtendenz, die jeweils eigene Partei festigen zu wollen, noch verstärken konnte.
Eigens hervorgehoben sei der Beitrag von Anne Conrad, der eine geschlechtergeschichtliche Perspektive einnimmt. Am Beispiel der Ursulinen, deren Gemeinschaft 1535 von Angela Merici in Brescia gegründet wurde, untersucht Conrad Binnendynamiken innerhalb der katholischen Konfessionskultur, in der Kontroverstheologie, Reformen im Bildungsbereich und Fragen zur Rolle der Frau in einem komplexen Wechselverhältnis stehen. Zahlreiche Forschungsfragen wirft ihr Fazit auf: »Das freie, selbstbestimmte Auftreten der Ursulinen als weibliche Geistliche und Predigerinnen wurde von den kirchlichen Behörden […] nur so lange geduldet, wie es im Sinne der konfessionellen Konfrontation und Rekatholisierung notwendig und sinnvoll erschien« (S. 302).
Aus der Fülle der Erkenntnisse lassen sich exemplarisch drei Folgerungen ziehen, die sowohl für die reformationsgeschichtliche und kontroverstheologische Forschung als auch für gegenwärtige Diskussionen und Dispute (so sie denn geführt werden) in Kirche und Gesellschaft von Bedeutung sind.
Erstens wird die Bedeutung von Argumenten und Argumentationen deutlich, einschließlich der Frage, was ein Argument ist und woher es seine Autorität bezieht (vgl. dazu z. B. das aufschlussreiche Fazit von Kai Bremer in seiner Untersuchung des Streits zwischen Hieronymus Emser und Martin Luther, S. 89). Zweitens bleibt es mit Blick auf die Vergangenheit eine mühevolle Aufgabe, nach der wirkmächtigen »Sicherung des Verkannten« (Thomas Dietrich in seinem Beitrag über Robert Bellarmin, S. 387) gerade im echten und vermeintlichen Gegenüber eine nicht selten unerwartete Nähe neu freizulegen (vgl. S. 388) und mit Blick auf die Gegenwart naheliegende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Drittens legt der Band, wie es der Freiburger Verleger Manuel Herder eingangs begründet, einen Bedarf an theologischem Streit um Welt und Kirche willen und ihrer gemeinsamen Beziehung zu Gott offen – »einen Bedarf, der in Form ›angewandter Theologie‹ gestillt werden will« (S. 21). Für eine solche »angewandte Theologie«, die es ohne die Integration und Reflexion historischer Forschung nicht geben kann, stellt sich heute ebenso wie im Reformationszeitalter die mehr denn je nur in ökumenischem Horizont zu beantwortende Frage: »Was bedeuten theologische Lehren für die gelebte und zu lebende Praxis und umgekehrt?« (Karl-Heinz Braun, S. 60).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Quisinsky, Rezension von/compte rendu de: Karl-Heinz Braun, Wilbirgis Klaiber, Christoph Moos (Hg.), Glaube(n) im Disput. Neuere Forschungen zu den altgläubigen Kontroversisten des Reformzeitalters, Münster (Aschendorff) 2019, 404 S. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 173), ISBN 978-3-402-11607-4, EUR 68,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79532