Die mittellateinische Münchner Habilitation von 2017 widmet sich Pilgertexten mit dem Ziel des Heiligen Lands. Insofern muss der Titel etwas eingeschränkt werden, weil nur diese Gegend im Zentrum des Interesses steht. Die Autorin wählt bewusst den Terminus »Pilgertexte«, weil die Bezeichnung Pilgerberichte im Grunde nur die Berichterstattung über Gesehenes in den Vordergrund rückt. Ihr geht es in ihrer Arbeit aber vor allen Dingen darum, die verschiedenen Dokumente unter dem Gesichtspunkt zu lesen, wie diese sich zu einer literarischen Tradition entwickelten und zugleich narrativ neue Welten erschufen.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Hauptkapitel, hinzu kommen Literaturverzeichnis sowie ein Orts-und Personenregister. In den ersten drei Kapiteln werden theoretische Grundlagen der von ihr untersuchten Texte erörtert. Dabei geht es nicht nur um die Charakteristika der Überlieferung und die Auswahl der untersuchten Texte (Kap. 2), sondern vor allen Dingen um die jeweiligen Textmerkmale. Hier stehen verschiedene Überlegungen zu Memoria und Imagination im Vordergrund. Fischer will danach fragen, inwieweit Pilgertexte zugleich und vor allem mentale Bilder und »narrative Repräsentationen des Heils« erschufen.
Nach diesem Teil wird das Textmaterial in den beiden Hauptkapiteln 4 und 5 im Einzelnen erörtert. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der »Imaginierung der Pilgerreise«, das etwas kürzere Kapitel 5 mit der »enzyklopädische(n) Funktion« der Pilgertexte. Insgesamt wird zeitlich breit ausgegriffen: Kapitel 4 beginnt mit dem spätantiken Itinerarium der Egeria und endet mit den Texten Felix Fabris an der Wende zum 16. Jahrhundert. Sehr deutlich wird auf Unterschiede Wert gelegt, so zum Beispiel, wenn der Bericht der Egeria den Aufzeichnungen des Anonymus von Piacenza gegenübergestellt wird.
Beim Anonymus werden Heilsorte nicht nur narrativ in den Blick gerückt und visualisiert, sondern oft auch durch die Thematisierung von Berühren, Küssen und anderen Akten gleichsam materialisiert. Dies führt zu einer ganz anderen Form der Inzenierung. Es fällt auf, dass nach den spätantiken und frühmittelalterlichen Texten (hier besonders interessant die Aufzeichnungen Adomnans mit den Diagrammen als räumliche Erschließungsformen) erst wieder im 12. Jahrhundert mit Johannes von Würzburg ein weiterer Text ins Zentrum gerückt wird.
Für die enzyklopädische Funktion steht in ganz besonderer Weise der Text des Burchard von Monte Sion, der bisher vor allen Dingen der kartografischen Abbildungen wegen das verstärkte Interesse der Forschung gefunden hat. Er bietet so etwas wie eine universale Topografie, und das Werk wurde mit seinen ca. 100 Handschriften im späteren Mittelalter ausgesprochen prägend.
Die Ergebnisse der Studie werden im sechsten Kapitel kurz zusammengefasst und unter die Stichworte Imagination und Wissensvermittlung gestellt. Originell ist an der Untersuchung Fischers, dass die jeweiligen Aufzeichnungen konsequent unter dem Aspekt analysiert werden, inwieweit die Texte selbst zum Medium des Heils wurden, wenn auch in ganz unterschiedlicher Art und Weise. Das Thema der Wegstrecken wurde insbesondere bei den Jerusalemtexten dahingehend modifiziert, dass der bereiste Raum als heiliger Raum konstruiert wurde, aber im Laufe der Zeit in sehr unterschiedlicher Form, wie die einzelnen Interpretationen, die hier nicht resümiert werden können, verdeutlichen.
Die insgesamt sehr spannenden Untersuchungen Fischers stützen sich unter anderem für die Latinität des Mittelalters auf zahlreiche Überlegungen, die bisher insbesondere von der germanistischen Mediävistik entwickelt wurden. Es fragt sich, ob nicht das Thema der virtuellen Pilgerfahrt, wie dies am Beispiel der »Sionpilger« Felix Fabris kurz angedeutet wird (S. 216ff.), noch ausführlicher hätte behandelt werden können und sollen. Auch bietet dieser Text Anlass zu fragen, inwieweit weitere Pilgertexte außer zu Jerusalem (Rom und Santiago) durch den interpretatorischen Ansatz Fischers besser erschlossen werden könnten und sollten. Die Imaginationen, die Fabris »Sionpilger« zum Beispiel für eine Wegstrecke auf der Iberischen Halbinsel zum Grab des heiligen Jakobus entwickeln, sind von einer ganz besonderen Eigenart, denn sie schließen (unter anderem) auch Heilsorte der europäischen Expansion ein, und dies ist auch der bisherigen Jakobus-Forschung nicht verborgen geblieben.
Insgesamt überzeugt die Arbeit Fischers, und es ist zu wünschen, dass weitere Textzeugen dieser Art in ähnlicher Gründlichkeit untersucht werden. Damit ergibt sich auch die dringende Frage, inwieweit Pilgertexte eine eigene Form des Heils schufen und damit in erheblichem Maße auch zu Sakralisierungsprozessen des Lateinischen Westens beitrugen. Diese Perspektive sehr konkret an einzelnen Beispielen erörtert zu haben, ist nicht das geringste Verdienst dieser gründlichen und konsequent durchgeführten Studie.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Herbers, Rezension von/compte rendu de: Susanna E. Fischer, Erzählte Bewegung. Narrationsstrategien und Funktionsweisen lateinischer Pilgertexte (4.–15. Jahrhundert), Leiden (Brill Academic Publishers) 2019, VIII–374 S., farb. u. s/w Abb. (Mittellateinische Studien und Texte, 52), ISBN 978-90-04-38042-4, EUR 116,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79551