Alban Gautier und Lucie Malbos fragen nach dem Charakter maritimer und insularer Gesellschaften im früheren Mittelalter und inwiefern Historikerinnen und Historiker der Eigenheit dieser Siedlungen Rechnung tragen sollen. Der anregende Band widmet sich damit einem bisher unzureichend behandelten Thema und reiht sich in die aktuelle Forschung zu den »Kleinen Welten« des frühen Mittelalters ein1. Nach einem einführenden Beitrag wird das Thema anhand von zehn Beiträgen diskutiert, die aus einer im März 2017 in Boulogne-sur-Mer stattgefundenen interdisziplinären Tagung hervorgegangen sind. Die einzelnen Aufsätze werden von Karten, Bildern und Tabellen begleitet, der Band durch einen Schlussbeitrag, englischsprachige Zusammenfassungen sowie einen Index abgeschlossen.

Der Band verwendet bewusst eine recht offene Definition von »Gemeinschaft«, die keinem spezifischen Quellenbegriff entspricht, es aber ermöglichen soll, die unterschiedlichen Facetten zu erfassen. Als Kriterium werden z. B. das Vorhandensein einer Eigenbezeichnung, eines Zusammengehörigkeitsgefühls oder gemeinsamer Interessen vorgeschlagen, wobei Letzteres die Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfeleistung, gemeinsame Traditionen, oder die gemeinschaftliche Organisation und Gesetzgebung implizieren kann. Die ohnehin dünne Quellenbasis ist durch die Häufung zerstörter Archive, vor allem im Norden und entlang des Atlantiks, zusätzlich verschlechtert, wodurch die Archäologie weiter an Bedeutung gewinnt.

Einige zentrale Themen werden jeweils von mehreren Beiträgen aus unterschiedlicher Perspektive behandelt. Stéphane Lebecq (S. 23–35) fragt nach dem (Dorf)Charakter friesischer Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe zum Nordmeer, das nicht nur wegen der Stürme, sondern auch der Piraten gefürchtet wurde. Archäologisch nachgewiesene Dammbauten lassen auf gemeinschaftliches Arbeiten und damit auf ein intaktes Gemeinschaftswesen schließen, die überlieferten Friesenrechte weisen auf eine Gesellschaft bestehend aus mehrheitlich freien Bauern hin. André Evangelista Marques (S. 97–126) widmet sich den maritimen Gesellschaften in Nordiberien, einer Region, für die 19 Institutionen in einer Entfernung von weniger als 20 km von der Küste Dokumentationen liefern, die einen Einblick in die dortigen Gegebenheiten bieten. Die hier am Beispiel von Moreira und Puerto durchgeführte Untersuchung liefert den Eindruck einer der inländischen Besiedlung nicht unähnlichen Siedlungsstruktur, auf welche die Nähe zum Meer nur bedingt Einfluss gehabt zu haben scheint.

Mit dem Handelsplatz (emporion/wic) als eigener Gattung maritimer Siedlungen befasst sich Søren M. Sindbæk (S. 127–142), der nach den im Norden entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Netzwerken fragt. Dabei setzt sich Sindbæk kritisch mit der auf Aussagen Henri Pirenne’s zurückgehenden Einschätzung auseinander, es handele sich um primitive Handelssiedlungen. Er verweist auf neuere Befunde, die auf komplexere Strukturen sowie auf deren Vernetzung mit anderen Handelsplätzen schließen lassen. Lucie Malbos (S. 37–56) beschäftigt sich mit den Frauen dieser nordwesteuropäischen Handelsplätze und hinterfragt dabei das im »Exeter Book« vorgelegte Idealbild der treuen Seemannsehefrau. Diese haben sich nicht nur handwerklich – vorwiegend in der Textil- und damit auch der Segelproduktion – eingebracht, sondern trugen nicht zuletzt durch ihr Engagement in Abwesenheit ihrer Männer auch wesentlich zur Entstehung stabiler maritimer Gesellschaften bei.

Drei Beiträge beschäftigen sich mit dem faszinierenden Beispiel Venedig. Stefano Gasparri (S. 57–66) legt überzeugend dar, dass das Umland und die Lagune das Stadtbild und das Leben der Menschen stärker prägten als der Handel, indem die dort entstandene Gesellschaft sich auch traditionell und institutionell zunehmend dem Meer zuwandte. Chiara Provesi (S. 67–78) befasst sich mit der von Johann dem Diakon vorgelegten ersten Stadtgeschichte Venedigs (frühes 11. Jahrhundert) und zeigt auf, dass eine Spaltung zwischen einer durch Landbesitz und Inlandshandel charakterisierten Landfraktion und einer zunehmend die Oberhand gewinnenden, durch Seehandel geprägten, Seefraktion hier noch keineswegs vorgegeben ist. Sauro Gelichi (S. 79–96) untersucht die archäologischen Befunde, um die »amphibischen« Eigenarten solcher Lagunenstädte zu ergründen, indem er Venedig mit Comacchio vergleicht, dem keine Stadtgeschichte gewidmet wurde. Dabei unterstreicht er die Bedeutung von Handel mit dem In- und Ausland, nicht zuletzt mit Salz, wobei beide Städte in ihrer frühen Geschichte insgesamt sehr ähnliche Entwicklungen durchlaufen zu haben scheinen.

Die Auswirkungen einer küsten- oder flussnahen Ansiedlung auf klösterliche Gemeinschaften ist ein Thema, dem ebenfalls drei Beiträge gewidmet sind. Arnaud Lestremau (S. 175–192) beschäftigt sich mit dem Einfluss des Meers auf die angelsächsischen Klostergemeinschaften und weist auf die wirtschaftliche Bedeutung von Fischfang und Salzhandel sowie auf kulturelle Auswirkungen hin, die sich in der damaligen Vorstellungwelt niederschlugen. Charlotte Gaillard (S. 156–174) befasst sich mit der bereits im 5. Jahrhundert auf der Île Barbe in der Saône nördlich von Lyon entstandenen Klostergemeinschaft. Obwohl die Lage zu Einschränkungen führte, ermöglichte sie gleichzeitig die wirtschaftlich lukrative Kontrolle über diesen Bereich des Flusses. Isabelle Cartron (S. 143–156) beschäftigt sich mit der auf der Insel Noirmoutier angesiedelten Klostergemeinschaft und den Auswirkungen, die deren 836 durch die Wikingergefahr bedingte Umsiedlung aufs Festland hatte. Dabei zeichnet sie den Übergang weg von der Abgeschiedenheit hin zur Entstehung einer gutsherrschaftlichen Gemeinschaft nach.

Stéphane Lebecq behandelt die anregende Frage nach den Schiffsgemeinschaften. Diese konnten in engem Kontakt zur Heimatsiedlung stehen, so z. B. wo regelmäßiger Walfischfang durch sogenannte consortia organisiert wurde. Anders verhielten sich die ebenfalls als Solidargemeinschaft agierenden und meist aus Freien bestehenden Fahrtgemeinschaften, wie sie auf Handelsschiffen anzutreffen waren. Diese waren tendenziell stärker gemischt, ihre Mitglieder oft nicht nur dem eigenen Heimathafen verbunden. In fremden Handelsstädten traten sie häufig als eigene Gruppe auf, wo dann die gemeinsame Religion ein wichtiger Identifikationsfaktor darstellen konnte.

Der Band behandelt ein für unser Verständnis der frühmittelalterlichen Gesellschaft und deren Vielfalt wichtiges Thema. Die Beiträge sind meist recht kurz, dafür aber durchgehend von hoher Qualität. Viele untersuchen bisher wenig beachtete archivarische oder archäologische Quellen oder bieten innovative Herangehensweisen. Das Thema ist damit natürlich nicht erschöpfend untersucht, es werden aber viele interessante Fragen angerissen, die zu anschließenden Untersuchungen einladen. Durch die Einleitung und das von Pierre Bauduin (S. 195–204) dargelegte Fazit, wo nicht zuletzt nochmals auf das Vorhandensein einer positiven Sicht auf das Meer hingewiesen wird, werden sowohl Forschungsstand als auch Ergebnisse über den Inhalt der einzelnen Beiträge hinaus gesichert. Weitere Studien werden in diesem Band sowohl methodisch als auch inhaltlich wichtige Wegweiser finden.

1 Insbesondere Thomas Kohl, Steffen Patzold, Berhard Zeller (Hg.), Kleine Welten. Ländliche Gesellschaften im Karolingerreich, Ostfildern 2019 (Vorträge und Forschungen, 87), sowie Berhard Zeller u. a., Neighbours and Strangers. Local societies in early medieval Europe, Manchester 2020 (Manchester Medieval Studies).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Laury Sarti, Rezension von/compte rendu de: Alban Gautier, Lucie Malbos (dir.), Communautés maritimes et insulaires du premier Moyen Âge, Turnhout (Brepols) 2020, 222 p., 2 ill. en n/b, 2 ill. en coul., 3 tabl. (Haut Moyen Âge, 38), ISBN 978-2-503-58551-2, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79552