Nicht nur Überblicksdarstellungen zu den Benediktinern insgesamt erleben gerade eine Art Boom – mindestens fünf sind in den letzten zehn Jahren mit den Büchern von Mariano Dell’Omo, James G. Clark, Christoph Dartmann, Georg Jenal und Mirko Breitenstein erschienen. Auch zu der lange Zeit wissenschaftlich kaum gewürdigten benediktinischen Kongregation von Tiron wurde in den letzten Jahren viel veröffentlicht. Dies ist vor allem das Verdienst von zwei Forscherinnen: Kathleen Thompson und Ruth Harwood Cline. Neben einer Reihe von Aufsätzen und Clines 2009 erschienener Übersetzung der Vita Bernhards, des Gründers des Ursprungsklosters der späteren Kongregation († 1116/1117), legte zuerst Thompson 2014 und nun Cline eine Monografie zur Geschichte der Tironenser vor.
Im Mittelpunkt von Clines Untersuchung stehen die Ausbreitung der Kongregation, ihre Besitzungen und ihr »extensive economic network« (S. 5), was knapp die Hälfte der 195 Seiten Text in Anspruch nimmt. Das Buch beginnt nach Inhalts-, Karten-, Tabellen- und Abkürzungsverzeichnissen mit einem Vorwort und Danksagungen. Aufschluss- und, wie sich im Buch zeigen wird, folgenreich ist dabei folgende Passage: »[...] Constance Berman, professor emerita of history, University of Iowa, contextualized Tiron’s development into an order alongside the Cistercians« (S. XIII). Es folgt eine knappe Einleitung (S. 1–5), in der Cline den Forschungsstand zusammenfasst und auf die wichtigsten von ihr verwendeten Quellen eingeht – darunter das Chartular und die »Vita Bernardi«. Da die zwei Quellen zentral für Clines Arbeit, aber beide auf ihre eigene Art problematisch sind, seien sie an dieser Stelle in aller Kürze charakterisiert.
Beim Chartular handelt es sich um eine bereits Mitte des 12. Jahrhunderts angelegte Handschrift, die heute in den Archives départementales d’Eure-et-Loir (Mainvilliers, nahe Chartres) unter der Signatur H 1374 aufbewahrt wird. Das Manuskript ist an sich ein hochinteressantes Zeugnis früher monastischer Aktenführung und wichtig für die Frühgeschichte der Kongregation selbst. Darin sind vor allem die Besitzungen und Rechte Tirons dokumentiert, überwiegend arrangiert in einer topografischen Ordnung. Bei den 325 enthaltenen Stücken handelt es sich allerdings nur in wenigen Fällen um tatsächliche Urkundenabschriften; die überwiegende Zahl sind Aktennotizen, die für das institutionelle Gedächtnis Rechtsakte zusammenfassend dokumentieren. Das Chartular wurde 1883 von Lucien Merlet ediert, doch rearrangierte der Archivar dabei die Folge der Einträge nach einer von ihm festgelegten Chronologie, ließ manche Stücke weg und ergänzte andere, nicht im Chartular enthaltene1. Der Editor liefert in Anmerkungen zu den einzelnen Stücken oft biografische Details zu erwähnten Personen oder Orten, sodass Cline, die nur die Edition und nicht die Handschrift verwendet, auch gelegentlich auf diese Anmerkungen rekurriert. Der Wert der Angaben von Merlet ist jedoch dadurch eingeschränkt, dass er meist keine Belege mitliefert.
Im Gegensatz zum Chartular liegt die »Vita Bernardi« in keiner mittelalterlichen Handschrift mehr vor. Der älteste Textzeuge ist ein auf einem heute verlorenen Manuskript des späten 13. Jahrhunderts basierender Druck von 1649. In der Vita gibt sich der Verfasser als Gaufredus aus, der sein Werk Gaufredus II., Bischof von Chartres (1116–1149), widmet. Die ältere Forschung hat den Verfasser als Kanzler der Abtei Tiron identifiziert, der als Schreiber einer Urkunde von 1126 bekannt ist.
Während Cline die Vita auf 1147 datiert und damit nicht wesentlich von der früheren Forschung abweicht, hat Kathleen Thompson eine so frühe Komposition in ihrer Monografie von 2014 nachhaltig infrage gestellt. In akribischer Analyse der Sprache, der Struktur und des Inhalts der Vita sowie im Vergleich mit zeitgenössischen Quellen zu Bernhard und den frühen Tironensern, die zentrale Punkte der Vita – etwa eine große Bekanntheit Bernhards als Prediger – nicht bestätigen, gelangt sie zu dem Schluss, dass es sich bei der Vita viel wahrscheinlicher um einen Profilierungsversuch der Tironenser des späteren 13. Jahrhunderts handeln dürfte, mit dem sie gegen den eigenen Bedeutungsverlust in ihrer Zeit ankämpften: Sie besannen sich auf ihren Gründer und ihre Anfänge – und zwar so, wie sie sie sehen wollten, indem sie aus verschiedensten Komponenten eine kohärente Vita kompilierten2.
Als eine der Quellen neben einer möglicherweise tatsächlich von Gaufredus verfassten, heute aber verlorenen Lebensbeschreibung Bernhards als Kern drängt sich für Thompson dabei eine von Jacques Dalarun in jüngerer Zeit entdeckte weitere Vita aus dem späteren 12. Jahrhundert auf, die »Brevis Descriptio«, die von Cline aber bereits in ihrer Übersetzung von 2009 nur als Synopse der ihrer Meinung nach älteren »Vita Bernardi« behandelt wird und die sie im vorliegenden Buch überhaupt nicht erwähnt. Cline geht an anderer Stelle auf die Ergebnisse Thompsons lediglich in einer Fußnote ein und hält u. a. mit folgender Begründung an ihrer eigenen Datierung fest: »Since Abbot William of Poitiers and the monks Adelelmus of Saint-Cyprien and Christian, who knew Bernard, were at Tiron (T1:54, no. 33, ca. 1120), and ibid., 2:79, no. 306 (ca. 1150), I consider the vita to be the institutional memory and mine it for historical information« (S. 33).
Dem Rezensenten erschließt sich nicht, wie dies Clines Datierung stützen soll. Zudem bestätigen die angeführten Belege (die Angaben beziehen sich auf das Chartular) nicht die Behauptung, dass die Personen sich »at Tiron« befunden hätten, da im ersten, einer Bestätigung der Besitzungen Tirons bei Arcisses durch den Grafen des Perche, Nogent als Ausstellungsort angegeben ist, und im zweiten, einer Aktennotiz über eine Schenkung an das Priorat Aunay, keiner. Ferner ist, mit Ausnahme Williams, nicht sicher, ob es sich um Personen handelt, die Bernhard noch kannten. So scheint etwa sehr fraglich, ob der in der Aktennotiz von ca. 1150 über eine Schenkung an ein Priorat von Tiron als letzter namentlicher Zeuge genannte Christianus monachorum famulus3 derselbe Christian ist, dem Bernhard laut Vita einige Jahre vor der Gründung Tirons begegnete und der dort, in Clines Übersetzung, als »a man of wondrous integrity and innocence« und als zur Zeit der angeblichen Abfassung der Vita noch lebend beschrieben wird4. Kurzum: Cline unterlässt es leider, sich mit Thompsons bestechender Neudatierung der »Vita Bernardi« ins spätere 13. Jahrhundert und ihrer These einer pragmatisch-revisionistischen Kompilation ernsthaft auseinanderzusetzen und hält ohne stichhaltige Begründung an der vielleicht noch nicht überholten, aber doch stark ins Wanken gebrachten Datierung fest, die die Vita als beinahe zeitgenössisches Zeugnis erscheinen lässt – und als dieses verwendet sie die Vita auch.
Das erste Kapitel ist mit »The Appearance of Tiron within Church Reform and Monastic Reform from the Eleventh Century« (S. 7‑14) überschrieben und hat ebenfalls einführenden Charakter. Zunächst ordnet die Autorin die 1107/1114 von Bernhard von Abbeville in der Landschaft Perche (heutige Region Centre-Val de Loire) gegründete Gemeinschaft und den bald daraus entstehenden Klosterverband grob in die eremitischen und monastischen Reformbewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts ein. Es folgen Ausführungen zu Informationen über Bernhard und über Tiron während Bernhards Lebenszeit aus zeitgenössischen chronikalischen Quellen, zum Engagement der Mönche von Tiron im Handel und wiederum zur bisherigen Forschung, bevor Cline als ambitionierte Zielsetzung ihres Buchs formuliert: »I focus on the order of Tiron’s rightful place as an important monastic congregation alongside the Cluniac and newer Cistercian foundations« (p. 13).
An dieser Stelle fällt besonders deutlich auf, was im Buch immer wieder zu bemerken ist: Für Cline sind order und congregation synonyme Begriffe, was bedeutet, dass die von Kaspar Elm, Joachim Wollasch, Peter Landau, Gert Melville, Florent Cygler und anderen in den vergangenen Jahrzehnten geleistete Schlüsselforschung der Autorin entweder unbekannt ist oder dass sie sie zumindest ausgeblendet hat. Um es ganz deutlich zu sagen: Der Verband von Tiron blieb stets eine Kongregation, deren Klöster der Jurisdiktionsgewalt der Ortsbischöfe unterworfen blieben und die nicht zu einem Orden wurde, wie er etwa von den Zisterziensern, Kartäusern, Dominikanern und Franziskanern bekannt ist.
Was für Cline der »rechtmäßige Platz« der Tironenser neben Zisterziensern und Cluniazensern sein mag, wird kurz darauf deutlicher: »As Bernard of Clairvaux assumed leadership in the 1120s and expanded the number of foundations following the practices of Cîteaux throughout Europe and Britain, his contemporary Abbot William of Tiron created a network linking Tironensian foundations in France and the British Isles. Half a century earlier than Cîteaux, he established centralized rule though [sic!] annual general chapters and subordinated daughter abbeys to the mother house« (S. 14). Wie Cline zu dieser Aussage kommt, bleibt an dieser Stelle unbelegt, wird aber im vierten Kapitel deutlich werden.
Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf die tironensische »Identität« ein (S. 15–31). Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff unterbleibt, Cline scheint aber mehr als nur die religiöse Identität zu meinen. Als identitätsstiftend für Tiron betrachtet sie etwa den strategischen Erwerb von Grundbesitz und das starke Engagement im Handel. Als regelrechte »agricultural entrepreneurs« seien die Mönche durch die »sophisticated, systematic, and productive exploitation of their estates« (S. 16) zum Vorbild für den schottischen Adel geworden. Als prägende Gestalt der tironensischen Identität benennt Cline aber vor allem Bernhard selbst: »He established the Tironensian identity: a simple rule with close supervision, shortened liturgy, veneration of Mary, acceptance of women, inclusion of hiermit, expertise in education and medicine, respect for the dignity of labour, skilled craftsmanship, extension of hospitality, exceptional mobility, and engagement in trade.«
Die »Consuetudines« Bernhards – und diese dürfte Cline an dieser Stelle mit »rule« meinen –, sind nicht erhalten. Die auf den folgenden Seiten anschließende Belegführung für die zitierten Aussagen stützt sich dann auch im Wesentlichen auf die »Vita Bernardi« und auf Stücke aus der Edition des Chartulars. Dabei festigt sich das Bild einer erstaunlich vielseitigen Kongregation, deren Angehörige erfolgreich Handel (etwa mit Getreide, Wein, Salz und Holz) und Landwirtschaft betrieben, einen guten Ruf als Baumeister, Handwerker und Heiler hatten, Schulen unterhielten, großzügig Gäste beherbergten und Arme unterstützten. Die Ausführungen über das eigentliche Klosterleben bleiben, wie angesichts der Quellenlage zu erwarten, kurz.
Cline übernimmt dazu legendenhafte Beschreibungen Bernhards aus der Vita als Tatsachenberichte (S. 18): So habe er als Abt mit den Mönchen gegessen, bei ihnen geschlafen und auf eine Sonderbehandlung verzichtet. Nur zögernd habe er das Maß der zu singenden Psalmen für die Gemeinschaft gekürzt, um mehr Zeit für die Handarbeit zu ermöglichen. Am Totenbett habe er entschieden, die bis dahin offenbar praktizierte Trennung von Chormönchen und Laienbrüdern in Liturgie und beim Kapitel aufzuheben. Persönlich hätte er zu Tages- und Nachtzeiten das Kloster inspiziert – stets ohne Lampe.
Überzeugender wird dagegen deutlich, dass die Tironenser einen Ansatz verfolgt zu haben scheinen, den man heute als Inklusion bezeichnen würde. Die Aufnahme von Eremiten, Frauen und sogar Familien auf dem Gelände der Klöster und teils auch in die monastische Gemeinschaft im engeren Sinne scheint zu einer starken Attraktivität der Tironenser auch für Stifter und Stifterinnen beigetragen zu haben. Was die Aufnahme von Frauen ad monachatum5 in Tiron konkret implizierte und wie das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen in den Klöstern praktisch organisiert war, wird auf Grund der Quellenlage schwer auszuloten sein, bemerkenswert und weiterer Untersuchungen wert ist es allemal.
Kapitel 3, »Bernard of Abbeville and Tiron’s Foundation« (S. 33‑45), zeichnet das Leben Bernhards auf Basis der Vita, aber auch weiterer Quellen nach. Demnach hatte Bernhard, geboren von namentlich unbekannten, aber nicht armen Eltern in der Grafschaft Ponthieu in der Picardie um 1050, eine hervorragende Bildung erhalten, bevor er ein religiöses, aber unstetes Leben als Mönch, Prior, Abt, aber auch Eremit oder Wanderprediger führte, bis er schließlich auf der Suche nach einem Ort für eine zunächst eremitisch bzw. halberemitisch geprägte Ansiedlung mit seinen Schülern im Perche um 1107/1109 fündig wurde. Zunächst wurden Holzgebäude errichtet, 1114 erhielten Bernhard und seine Anhänger jedoch vom Bischof und Domkapitel von Chartres weiteres Land zum Bau eines Klosters, das unter den Schutz des Domkapitels gestellt wurde.
Ob darin eine Verlegung eines schon vorhandenen Klosters und eine Neugründung zu sehen ist, die, wie es die Vita behauptet, durch einen Konflikt mit Cluniazensern von Saint-Denis bei Nogent-le-Rotrou um Begräbnisrechte und den Zehnten nötig wurde, was Cline (S. 19, 41) übernimmt, oder ob, wie Thompson annimmt, die wachsende Gemeinschaft schlicht mehr Fläche und solidere Gebäude aus Stein benötigte6, wird sich ohne weitere Quellen nicht klären lassen. Der angeführte Konflikt mit Cluny wirkt aber in der Tat sehr topisch. Tiron gedieh jedenfalls sehr schnell und zog zahlreiche Stifter an. Noch zu Lebzeiten Bernhards wurden die ersten Priorate gegründet – bzw. die Güter dafür gestiftet. Bereits auf 1114 könnte die Stiftung der Abtei Selkirk durch den schottischen König David I. zu datieren sein, der kurz nach Bernhards Tod Tiron besuchte, um mehr Mönche für seine Gründung aus Tiron mitzunehmen – darunter Ralph, den ersten Abt Selkirks. Zweiter Abt des später nach Kelso verlegten Klosters wurde William von Poitiers, der Protagonist des vierten Kapitels.
Das mit »William of Poitiers and His Successors« betitelte Kapitel (S. 47–72) beschreibt die Entwicklung der Abtei Tiron und der sich formenden Kongregation. William, dessen Identität von der Forschung, und auch von Cline, noch nicht geklärt werden konnte, wurde Nachfolger Ralphs in Selkirk, der auf Bernhard als Abt von Tiron folgte, und wiederum Nachfolger des bald verstorbenen Ralphs in Tiron – möglicherweise amtierte zwischen beiden noch kurzzeitig ein Abt namens Hugo. Williams Abbatiat, während dessen die Tironenser sich am stärksten ausdehnten, gibt Cline, zu Recht vorsichtig, von ca. 1119 bis 1150/1160 an. 1150 urkundet William das letzte Mal, der nächste Abt von Tiron ist jedoch erstmals in einer Urkunde von 1160 nachweisbar (S. 52, 71).
Unter William erfuhr der Verband einen starken Aufschwung, Cline spricht vielfach von einer strategischen Ausbreitung und der Entwicklung eines tironensischen Netzwerkes mit Tiron als Zentrale. Dabei versuchte Tiron, die Kontrolle nicht nur über seine vielen Priorate, sondern auch über die (insgesamt ein gutes Dutzend) tironensischen Abteien zu bewahren, was ihm aber zumindest für die außerhalb des heutigen Frankreichs liegenden Klöster nur zeitweise gelang. Auf S. 14 hatte Cline angegeben, dass William ein halbes Jahrhundert vor Cîteaux ein zentralisiertes Herrschaftssystem mit einem jährlich tagenden Generalkapitel und dem Mutterhaus untergeordneten Tochterabteien etabliert hätte. Nun ergänzt sie: »William established himself as an abbot general who ruled over his priors and the abbots of the dependent abbeys of his congregation across political boundaries with the counsel of an annual general chapter« (S. 64) und ferner: »Purportedly Cîteaux submitted the Charter of Charity and the Exordium Cistercii, with a similar provision, to Callistus II for his approval in 1119. Berman establishes a sequence of the manuscripts of Cîteaux’s governing charters, proves the 1119 bull a forgery prepared ca. 1170 and backdated, and shows that other manuscripts were prepared ca. 1165–1175 and presented recent innovations as established by earlier generations« (S. 67).
An diesen Aussagen Clines ist manches problematisch. Auf die Feststellungen zum Generalkapitel und auf die erst mit dem Verweis auf Berman verständliche Behauptung einer Art fünfzigjährigen Vorsprungs von Tiron gegenüber Cîteaux in Hinblick auf die Organisation des jeweiligen Verbands soll genauer eingegangen werden. Während man Williams Stellung oder vielmehr sein Selbstverständnis vermutlich als dem eines Generalabtes ähnlich beschreiben kann und er den Anspruch Tirons als Zentrale etablieren und überwiegend wohl auch hat durchsetzen können, mangelt es, wenigstens für das 12. Jahrhundert, an Quellen für ein Generalkapitel.
Clines Kronzeuge für ihre Behauptung solcher jährlich stattfindender Versammlungen ist der so genannte »Cemais Chirograph« (S. 65f.) von ca. 1120/1130, eine Art Vertrag7 zwischen der Abtei St. Dogmaels in Wales und der Abtei Tiron, von dem nur die Kopie für Tiron erhalten ist, die auch im Chartular ediert wurde. In diesem Text sind mehrere Prärogativen des Abts und Konvents von Tiron sowie Pflichten des Abts und Konvents von Cemais festgehalten. Enthalten ist darin auch eine Regelung, [...] ut abbates ecclesie Tyronensi subjecti qui in transmarinis partibus sunt et erunt, semper in tercio anno, [...] in sollenitate sancte Pentecostes apud Tyronense cenobium congregentur8.
Das ist in der Tat, auch wenn die Bezeichnung capitulum generale nicht explizit fällt, ein deutlicher Hinweis auf eine derartige Einrichtung und auf die Verpflichtung von Oberen bestimmter Abteien, daran teilzunehmen. Ein weiterer Chirograf anlässlich der Errichtung der Abtei Asnières, die im heutigen Département Maine-et-Loire liegt, also keine der transmarinen Abteien ist, schreibt dem dortigen Abt und alii abbates um 1129 tatsächlich den jährlichen Besuch eines matris ecclesie capitulum9 vor.
Möglicherweise enthält auch der dritte und letzte bekannte derartige Chirograf, der anlässlich der Errichtung der Abtei Bois‑Aubry 1138 angefertigt wurde, eine entsprechende Regelung, doch die entscheidende Stelle ist laut dem Editor des Chartulars nicht lesbar (oder vielleicht getilgt?)10. Damit enden aber auch die eindeutigen Hinweise auf eine Art Generalkapitel in der Frühzeit der Kongregation. Die anderen Hälften der drei Chirografen sind nicht bekannt – werden jedenfalls weder von Thompson noch von Cline erwähnt – und für andere Abteien gibt es offenbar gar keine entsprechenden Dokumente.
Weitere Quellen bringt Cline erst für viel spätere Zeiten: für 1378 eine Urkunde des Abts von Le Tronchet, in der er unter anderem bestätigt, dass er verpflichtet sei, jährlich das explizit so benannte Generalkapitel in Tiron zu besuchen (S. 195), zusammenfassende Dokumentationen von Generalkapiteln ab den 1480er Jahren (S. 171), Mahnungen zum Besuch des Generalkapitels aus den Jahren 1537 bis 1548 durch den Abt von Tiron (S. 148, 195). Und Thompson, die weiteren Hinweisen auf ein Generalkapitel nachgeht, konstatiert schließlich nüchtern: »In short, then, the evidence for formal gatherings of the Tiron congregation is sparse and inconclusive11.«
Die Aussage Clines, William habe in seinem Abbatiat ein jährlich tagendes Generalkapitel eingerichtet, mit dessen Rat er über die Kongregation herrschte, worauf Cline noch mehrfach rekurriert, scheint vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Das Defizit an aussagekräftigen Quellen für Tiron ist umso wichtiger für einen Vergleich mit Cîteaux – oder passender: mit dem Zisterzienserorden –, dessen Generalkapitel samt Organisation und Vollmachten ungleich solider dokumentiert ist und das auch früher eingerichtet worden sein dürfte, als von Cline suggeriert.
Während es stimmt, dass Constance Berman mehrere zisterziensische Urkunden zu Fälschungen erklärte oder um Jahrzehnte später datierte und den Zisterzienserorden mit »Carta Caritatis«, Generalkapitel, Visitationssystem etc. statt 1115/1119 erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstehen lässt, versäumt Cline zu erwähnen, dass die von ihr zitierte Arbeit Bermans12 von der Forschung breit kritisiert und ihre Ergebnisse wegen fehlender Beweise und handwerklicher Mängel mehrfach und entschieden zurückgewiesen wurden13.
Bermans Arbeit ist also mindestens umstritten, in jedem Fall aber keine solide Basis für zeitliche Vergleiche zwischen Tiron und Cîteaux. Zwar schränkt Cline ihre oben zitierte Aussage auf S. 67 noch ein (»In that case Tiron may be an organizational model for Cîteaux«), aber die vorherigen Zitate scheinen nur durch eine Orientierung an Bermans Thesen erklärbar, und auch in ihrer Zusammenfassung betont die Autorin wieder, dass die Tironenser unter den ersten waren, die nicht nur durch ein zentralisiertes administratives System, sondern auch durch ein jährliches Generalkapitel die Klöster der Kongregation »regiert« hätten (S. 178). Einen stärkeren Einfluss von Bermans Forschungen auf Clines Arbeit deuten ferner vergleichsweise viele Zitate und auch die Danksagung sowie drei Fußnotenverweise auf persönliche Kommunikation an.
In den Kapiteln 5 und 6 untersucht die Autorin die Ausbreitung der Kongregation in den Gebieten des heutigen Frankreichs (S. 73–125) und auf den Britischen Inseln (S. 127–166) im 12. Jahrhundert. Detailliert, sinnvoll strukturiert und anschaulich gelingt es ihr dabei zu zeigen, wie Tiron an für den Handel oder die Nähe zu Herrschern wichtigen Orten Klöster gründen sowie Rechte, Freiheiten und Besitz erwerben und einzelne Besitzungen miteinander verbinden konnte, sodass diese oft nicht mehr als einen Tagesmarsch oder -ritt voneinander entfernt lagen.
Hilfreich zur Orientierung bei der Lektüre sind dabei Karten und Tabellen. Aufschlussreich sind die Hintergründe zur Gründung und Ausstattung einzelner Priorate und Abteien, etwa in Hinblick auf gehäufte Stiftungen einzelner Könige, Herzöge, Grafen und Bischöfe sowie deren Verwandter oder auf den unterschiedlichen Erfolg der Tironenser Mönche in verschiedenen Herrschaftsgebieten und hinsichtlich ihrer Entwicklung nach der Gründung, besonders in Bezug auf ihr Verhältnis zur Zentrale der Kongregation in Tiron.
Im Schlusskapitel behandelt Cline kurz die spätere Geschichte Tirons, bevor sie die Ergebnisse ihres Buchs zusammenfasst (S. 167–179). Es folgen zwei Anhänge mit einem Vergleich der päpstlichen Besitzbestätigungen und einem Exkurs zu Konflikten um Güter oder um die Unterordnung unter Tiron. Den Abschluss bilden eine Auswahlbibliografie von anderthalb Seiten Quellen und viereinhalb Seiten Sekundärliteratur sowie zwei Indices – von tironensischen Orten sowie allgemein von Personen, Orten und, dankenswerterweise, auch Sachen.
Ein Gesamtfazit zum Buch zu fassen, fällt nicht leicht. Zu den oben schon angesprochenen Monita kommen weitere. Das betrifft nicht nur ärgerliche und vermeidbare Fehler wie die abwegige Bezeichnung einer Synode im Jahr 1116 als »Fourth Lateran Council« (S. 10) oder die Verwechslung Karls des Großen mit Karl dem Kahlen anlässlich der Stiftung einer Marienreliquie an die Kathedrale von Chartres im Jahr 876 (S. 19).
Wenn aber Cline die Bedeutung eines Priorats bzw. der zur Gründung des Priorats führenden Schenkung unterstreichen will, indem sie den Urkundentext Henricus, Dei gratia, rex Anglorum et dux Normannorum, G[aufrido], archiepiscopo Rotomagensi, et Henrico comiti de Auco et Ade der Germundi-villa et omnibus fidelibus suis Normannie, salutem. Sciatis me concecisse […] donationem […] quas eis dedit predictus Adam […]14 mit »Its strategic importance is evident in its confirmation by Henry I, William I Bonne Ame, archbishop of Rouen (r. 1071–1119), and Henry Hastings, count of Eu (r. 1096–1140), as well as by donor Adam of Grémonville« (S. 96) wiedergibt, also Adressaten mit Ausstellern verwechselt, wirft das allerdings grundsätzliche Fragen am Verständnis mittelalterlicher Quellen seitens der Autorin auf.
Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn sie als zusätzliches Argument für ihre These der »strategic importance« noch einige »high ranking witnesses« der Beurkundung – den Bischof von Lincoln und vier normannische Barone – aufzählt und deren Zugehörigkeit zum inneren Kreis der königlichen Berater betont (S. 96, Anm. 86). Schon die Zeugenunterschriften von Fürsten und anderen Beratern auf Königsurkunden ist völlig normal. In diesem Fall liefert die Urkunde bei der Datierung aber sogar den zu vermutenden Hauptanlass für den Aufenthalt der entsprechenden Zeugen bei Hofe: Apud Rotomagum, in die qua barones Normannie effecti homines filii regis15. Sie waren also wohl vor allem dort, um dem Sohn des Königs, dem wenige Jahre später beim so genannten »White Ship disaster« umkommenden William, das homagium zu leisten16.
Der größte Wert des Buchs liegt im vierten, fünften und sechsten Kapitel, in denen Cline die Ausbreitung der Kongregation im 12. Jahrhundert detailliert aufarbeitet, inklusive der Rolle, die William als Abt von Tiron dabei spielte. Deutlich wird auch dessen Anteil an der Organisation der Kongregation als Klosterverband mit Tiron als seinem Zentrum und Haupt, dem sowohl Priorate als auch Abteien untergeordnet sein sollten.
Doch geht Cline in der Interpretation der Quellen sicherlich zu weit, wenn sie schon für Williams Abbatiat ein institutionalisiertes und regelmäßig tagendes Generalkapitel annimmt, mit dem Tiron die abhängigen Klöster kontrolliert hätte. Die vorhergehenden Kapitel 1 bis 3 überzeugen nicht, insbesondere wegen der als Hauptzeugin herangezogenen, aber problematischen Vita des Gründers. Auch eine »Identität«, zumal eine religiöse, lässt sich aus den Seiten, die dem Thema gewidmet sind, nicht so recht erkennen.
Insgesamt ergibt sich das Bild einer benediktinischen Reformkongregation mit eremitischen Wurzeln, einem charismatischen Gründer am Anfang und einem tüchtigen Organisator danach, die sich von anderen Kongregationen vor allem dadurch unterschied, dass sie bemerkenswert früh vom europäischen Festland auf die Britischen Inseln ausgriff und sich vergleichsweise stark im Handel engagierte und nicht zuletzt auch dadurch schon früh stärker »in der Welt« wirkte als andere monastische Verbände. Religiöse Akzente scheinen die Tironenser allerdings nicht gesetzt zu haben, und die Schaffung innovativer Organisationsstrukturen wird man auch weiterhin eher den Zisterziensern zugestehen müssen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Björn Gebert, Rezension von/compte rendu de: Ruth Harwood Cline, The Congregation of Tiron. Monastic Contributions to Trade and Communication in Twelfth-Century France and Britain, Leeds (Arc Humanities Press) 2019, XIV–211 p., 13 maps, 10 tabl. (Spirituality and Monasticism, East and West), ISBN 978-1-64189-358-9, EUR 89,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79557