In Anlehnung an vorausgegangene Studien zu mittelalterlichen Säkularkanonikern zielt der von Jean Heuclin und Christophe Leduc herausgegebene Sammelband darauf ab, diese Art des religiösen Zusammenlebens in seinen vielfältigen Ausprägungen näher zu beleuchten und die Interaktionen der betreffenden Akteure in ihrem jeweiligen sozialen und politischen Kontext zu verorten (S. 11). Im Fokus stehen das Kanonissenstift Sainte-Aldegonde in Maubeuge sowie die mit ihm verbundene Kanonikergemeinschaft Saint-Quentin, die durch einen analytischen Querschnitt von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen (Geschichtswissenschaft, Archivkunde, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Archäologie) in der »longue durée« untersucht werden. Die dadurch erzielten Ergebnisse sollen Impulse für künftige Forschungen, sowohl zu Maubeuge als auch zu vergleichbaren Einrichtungen in Nordfrankreich sowie generell im Bereich des Säkularkanonikerwesens geben (S. 12ff., 20).

Der Band enthält insgesamt 25 Einzelbeiträge, die drei Themenbereichen zugeordnet sind: »La quête d’un statut« (I), »Rayonnement canonial aux anciens Pays-Bas« (II), »Sources et documents pour l’histoire d’un chapitre« (III); jeder der drei Themenbereiche ist wiederum in zwei Teilabschnitte untergliedert: Auf Analysen historischer Sachverhalte folgen Untersuchungen und Präsentationen verschiedener Quellengattungen. Voraus geht eine inhaltliche und methodische Einführung der beiden Herausgeber in das Thema (S. 11–20). Bei den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge handelt es sich um etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Nordfrankreich und Belgien, die mit der Geschichte von Maubeuge und der angrenzenden Regionen bestens vertraut sind.

Im Zentrum des ersten Teilabschnitts (S. 25–132) stehen der stetige Wandel, die Anpassungsfähigkeit und Versuche der Aufrechterhaltung religiöser Lebensformen im nordöstlichen Frankreich. In einem historischen Überblick von den Anfängen bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts illustriert zunächst Jean Heuclin mit Blick auf den regionalen Adel und den Bischof von Cambrai die Einbindung der ursprünglichen Klostergründung von Sainte-Aldegonde in die regionale Obrigkeit (S. 25–36). Daran anknüpfend untersucht Bernard Delmaire die langwierige, wechselhafte und konfliktreiche Umwandlung von Sainte-Aldegonde in eine Kanonissengemeinschaft, die im Zuge eines 1249 an der römischen Kurie gegen den Bischof von Cambrai geführten Prozesses offiziell besiegelt wurde (S. 37–53). Dieser spezifisch auf Maubeuge bezogenen Betrachtung schließen sich einige grundlegende Überlegungen von Ludo Milis zum Aufkommen eremitischer Bewegungen und ihrer consuetudines im 12. Jahrhundert (S. 55–64) an.

Die vier folgenden Beiträge setzen sich eingehend mit zentralen Aspekten der internen wie externen Organisation religiöser Gemeinschaften im nordöstlichen Frankreich vom Hochmittelalter bis in die Moderne auseinander. Analysiert werden hier einerseits die Hintergründe und Folgen von Transformationen im Bereich der institutionellen Ausrichtung (Philippe Racinet, S. 65–77; Isabelle Clauzel, S. 79–89), aber auch die Herausbildung und Entwicklung von Prioratstrukturen (Julie Colaye, S. 91–103) sowie die Integration in die Netzwerke regionaler Herrschaftsträger (Franck Béthouart, S. 105–132). Sie betten das Thema des Bandes in einen breiten regionalen Kontext ein und eröffnen damit interessante Vergleichsperspektiven. Abgeschlossen wird dieser erste Themenbereich durch zwei sehr detaillierte Studien von Jean-François Goudesenne (S. 135–162) und Dominique Vanwijnsberghe (S. 163–180) zur Produktion und dem Stellenwert liturgischer Handschriften im direkten Umfeld von Maubeuge während des Hoch- und Spätmittelalters.

Der zweite Themenbereich (S. 185–341) vereint Beiträge zur sozialen und politischen Bedeutung von Sainte-Aldegonde im regionalspezifischen Kontext der Frühen Neuzeit. Als Indizien für eine herausgehobene Stellung des Stifts können zum einen die Aufnahmekriterien für neue Kanonissen gelten, die in den Spanischen Niederlanden wohl nirgendwo so streng und komplex waren wie in Sainte-Aldegonde (Christine Mazella-Leriche, S. 185–208; Christophe Leduc, S. 215–231); eine entscheidende Rolle spielte hier sicher die enge Anbindung des Stifts an wichtige regionale Adelsfamilien wie die Grafen von Flandern und Hennegau (Gilles Deregnaucourt, S. 209–214).

Ferner manifestiert sich die Bedeutung von Sainte-Aldegonde in der Verehrung der Stiftsheiligen im Rahmen von Prozessionen in benachbarten Städten, etwa in Mons, wo zahlreiche Parallelen zu den Prozessionen in Maubeuge bestanden, die als kollektive Ausdrucksmöglichkeit kommunalen Bewusstseins durchaus identitätsstiftend wirkten und zugleich das hierarchische Gefälle innerhalb der Stadt und Stiftsgemeinschaft symbolisch zum Ausdruck brachten (François de Vriendt, S. 249–273).

Im zweiten Teilabschnitt des Themenbereichs wird diese soziale Komponente der Bedeutung von Sainte-Aldegonde noch durch zwei kunsthistorische Studien zu zwei illustrierten Inventaren (Nicole Cartier, S. 277–286) und dem Stab der Vorsteherin (Raphaël Coipel, S. 287–317) sowie einen musikwissenschaftlichen Beitrag unterstrichen, der die Hintergründe und Modalitäten der Einbindung regionaler und übergeordneter Akteure vom französischen Königshof in die örtliche liturgische Praxis untersucht (Céline Drèze, S. 319–341).

Im dritten Teil des Bandes (S. 349–462) geht es um die schriftlichen und materiellen Hinterlassenschaften der Stiftsgemeinschaft im engeren Sinn. Auf eine Aufarbeitung der Wege archivalischer Überlieferung nach der Revolution (Alexis Donetzkoff, S. 349‑356) folgen ein Beitrag zu dem Stiftsgebäudekomplex aus der Zeit um 1750 (Laurence Baudoux-Rousseau, S. 357–360) sowie eine sehr minutiöse Studie von Élisabeth Magnou-Nortier (S. 361‑382) zu zwei »Brevia« aus dem 10. Jahrhundert, die Einblicke in die grundherrschaftlichen Verhältnisse in der Umgebung zweier zu Sainte-Aldegonde gehöriger Pfarrkirchen gewähren. In einem zweiten Teilabschnitt präsentiert zunächst Jean Heuclin zwei zentrale Quellen für die Stiftsgeschichte (zwei »Vitae Aldegundis« aus dem 8. bzw. 11. Jahrhundert, S. 387–406; S. 407–427) in kommentierter französischer Übersetzung. Es folgt eine ebenfalls von Jean Heuclin besorgte Transkription der beiden unedierten »Vitae« der Eltern der Stiftsheiligen (Walbert und Bertille) aus dem 17. Jahrhundert (S. 429–443), in denen Aldegunde zur Schutzheiligen der Spanischen Niederlande gegen die französische Bedrohung stilisiert wird; ergänzt wird diese Edition noch durch eine Studie zur politischen Bedeutung des Kultes von Walbert und Bertille (S. 445–454). Den Abschluss dieses dritten Teils und zugleich des gesamten Bandes bildet ein Bericht zu den archäologischen Ausgrabungen in Saint-Martin de Cousolre und an den Überresten der beiden letztgenannten Heiligen vorgenommenen DNA-Proben (S. 455–462).

Der Band wird den Zielsetzungen der Herausgeber durchaus gerecht. Hervorzuheben ist die Bereitstellung einer Fülle von bislang unediertem Quellenmaterial in den Anhängen vieler Beiträge. Wünschenswert wären indes ein Register, eine conclusion sowie farbige Abbildungen der zahlreichen kunsthistorischen Quellen gewesen. Ansonsten eröffnet der Band viele interessante Forschungsperspektiven, vor allem im Hinblick auf das religiöse Zusammenleben zwischen Frauen und Männern (siehe etwa Christophe Leduc, S. 220–226) und für Institutionen, die sich in Grenzgebieten konkurrierender Machtsphären befanden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hannes Engl, Rezension von/compte rendu de: Jean Heuclin, Christophe Leduc (dir.), Chanoines et chanoinesses des anciens Pays-Bas. Le chapitre de Maubeuge du IXe au XVIIIe siècle, Villeneuve d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2019, 464 p., nombr. ill. (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-2949-5, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79559