Eines der verbreitetsten Legendare des hohen Mittelalters, das der Dominikaner Iohannes de Mailliaco, Jean de Mailly, im Jahr 1243 nach einer dritten Redaktion endgültig abgeschlossen hat (Kolophon, S. 490), erfuhr erst 770 Jahre später die erste Druckausgabe überhaupt, die zugleich eine hervorragende kritische Edition darstellt. Neun Jahre arbeitete der Herausgeber Giovanni Paolo Maggioni an diesem Werk (S. CLXX), zu dem er durch seine großartige Ausgabe der »Legenda aurea«1 prädestiniert war. Jacobus a Voragine (Jacopo da Varazze) war mit seiner Legendensammlung der große Wurf gelungen: die »Legenda aurea« stellte schnell ihre Vorläufer in den Schatten, sodass diese nach und nach in Vergessenheit gerieten. Gerade die »Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum« des Jean de Mailly war in ihrer Konzentration und Systematik so neu wie wegweisend und wurde bald nach ihrer Vollendung von Bartholomäus von Trient2 aufgegriffen (S. X, Anm. 3).
Das hier zu präsentierende Buch ist zweigeteilt in die umfangreiche Einleitung und den großen Textteil. Der erste Abschnitt der Einleitung ist Leben und Werk des Jean de Mailly gewidmet. Wenige persönliche Daten von ihm sind bekannt, die sich zum Teil nur indirekt aus den ihm zugeschriebenen Werken ableiten lassen. Um 1190 in Mailly-le-Château oder Mailly-la-Ville in Burgund geboren, war er seit etwa 1220 Kleriker in seinem Heimatbistum Auxerre. Dort begann er, eine neuartige Sammlung von Heiligenleben anzulegen, eben seine »Abbreviatio« (wohl 1228/1230). Zwischen 1230 und 1240 trat Jean in den Predigerorden ein und lebte wenigstens zeitweise im Konvent zu Metz, wo er vermutlich vor 1260 verstarb.
Jedenfalls fand er in Lothringen ein fruchtbares Umfeld, beschäftigte sich mit der »Chronica Universalis Metensis« und der Weiterführung der »Abbreviatio« und arbeitete Vinzenz von Beauvais für sein "Speculum" zu. Maggioni widmet dem Aufbau der »Chronica«, der Arbeitsweise des Jean de Mailly und den wechselseitigen Beziehungen der beiden Werke aufschlussreiche Seiten. Die Handschrift Paris, Bibl. nat. de France, ms. lat. 14 593 enthält zwischen zwei Fassungen der »Chronica« einen »Catalogus sanctorum«, in dem 590 Heilige, unterschieden in Märtyrer, Jungfrauen und Bekenner nach Todesjahr und -tag unter dem jeweils herrschenden Kaiser aufgeführt sind. Allem Anschein nach war diese lange Liste ein Auszug, der nach und nach aus der Zusammenarbeit mit Vinzenz von Beauvais erwuchs, dessen Bestimmung jedoch nicht mehr eindeutig nachvollziehbar ist. In dem nämlichen Pariser Codex wird auch die »Genealogia Arnulphi episcopi« überliefert. - Eine Sammlung von Modellpredigten aus der Feder eines G. de Mailly wird zuweilen fälschlich Jean zugeschrieben (S. LVII).
Maggioni hat hier die bisherige Forschung aufbereitet und aufgearbeitet und mit seinen eigenen Ergebnissen verknüpft. Allerdings gibt es keine allgemeine Bibliografie, die angesichts der Fülle der Literaturangaben sinnvoll wäre.
Der zweite Abschnitt gilt der »Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum« und speist sich aus den Beobachtungen Giovanni Paolo Maggionis bei seiner Arbeit an der »Abbreviatio«. Zunächst stellt er das neue literarische Genus der Zusammenstellung von Kurztexten für die Herren- und Heiligenfeste im Kirchenjahr in seinen historischen Zusammenhang und erläutert, wie Jean mit seinen Quellen verfährt, um einen formal und stilistisch kohärenten Text ohne Längen und abschweifende Informationen zu schaffen. Interessant, wie später Jacobus a Voragine zwar die Version der »Abbreviatio« übernimmt, aber einige Stellen aus den Quellen wieder aufnimmt, die Jean bewusst weggelassen hatte.
Ohne die Hilfe von Mitarbeitern (notarii) beim Sammeln und Ausschreiben von Quellen und ohne professionelle Kopisten, die das große Werk systematisch abschrieben, war seine Entstehung und Verbreitung nicht möglich (»L’autore e i suoi collaboratori«, S. LXV–LXVII; »Copisti professionali del XIII secolo«, S. LXVII–LXVIII). Einige haben durchaus eigenständig gearbeitet, offensichtliche Versehen emendiert oder einen Abschnitt der »Abbreviatio« mit der Quelle verglichen und Auslassungen wieder aufgenommen. So lassen sich allgemeine Fragen der Textkritik auch an solcherlei Kriterien festmachen (»Dipendenza dalle fonti e sua utilità nel lavoro ecdotico«, S. LXIX–LXXI). Maggioni rechtfertigt seine textkritische Methode (S. LXXII–LXXIII) und skizziert schließlich die Überlieferung des Werks in der lateinischen Fassung. Bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde die »Abbreviatio« ins Französische übersetzt. Zehn Handschriften des ausgehenden 13. und des 14. Jahrhunderts zeugen davon. Die volkssprachliche Verbreitung hatte ihren Schwerpunkt in Lothringen (S. LXXIV–LXXV).
Im zweiten Teil der Einleitung werden die bekannten Textzeugen aufgelistet und vorgestellt, 34 erhaltene und zwei verlorene Handschriften. In zwei weit verbreiteten Werken, nämlich im »Speculum historiale« des Vinzenz von Beauvais und in der »Legenda aurea«, wird die »Abbreviatio« als Quelle benutzt; insofern stellen beide die »tradizione indiretta« dar (S. CVI–CVIII). Vermutlich hat Jean de Mailly seinem Ordensbruder Vinzenz sogar zugearbeitet, wie oben erwähnt.
Der dritte Teil der Einleitung ist ganz den Wegen zur Textkonstitution gewidmet. Aufgrund der zahlreichen Textzeugen und der drei Redaktionsstufen mit einem Supplement von 36 Nummern, dessen Hauptzeuge die autornahe Handschrift Bern, Burgerbibliothek 377 ist und das teilweise in die weiteren Codices der Redaktion A3 integriert wurde, war sie eine Herausforderung. Maggioni legt plausibel dar, welche Kriterien zur Auswahl der sieben Handschriften der letzten Redaktionsstufe für die Einrichtung des Textes geführt haben. Im ersten kritischen Apparat werden ihre Lesarten verzeichnet. Im zweiten Apparat erscheinen die Lesarten eines Vertreters der Redaktionsstufe 2 und dreier Handschriften, die die drei Familien der ersten Redaktionsstufe vertreten.
Nach der Einleitung folgen das Verzeichnis der Abkürzungen und der im Apparat angeführten Quellen und Texte sowie fünf Abbildungen aus den beiden Handschriften Paris, Bibl. nat. de France, ms. lat. 14 593 (u. a. mit der »Genealogia Arnulphi episcopi«) und Brüssel, Bibl. royale Albert Ier, IV 1147.
Der große Textteil ist nach dem Kirchenjahr in 177 Kapitel gegliedert, beginnend mit dem Apostel Andreas. Das Supplementum hagiographicum enthält weitere 36 Legenden, darunter die der hl. Elisabeth von Thüringen (auch abgedruckt als Nachtrag zum Fest der hl. Cäcilia, Kap. 173). Eingangs wird in wenigen Zeilen der Zweck des Werks formuliert: Es dient den Geistlichen als handliches Mittel bei der Vorbereitung ihrer Predigt, um bei den Gläubigen die Verehrung der Heiligen zu wecken und zu fördern (S. 3).
Non sunt isti Primus et Felicianus, de quibus superius dictum in iunio, quia, etsi sub eisdem imperatoribus martyrium compleuerunt, in diuersis tamen locis a diuersis iudicibus occisi sunt (S. 421) – »Diese sind nicht die Primus und Felician, von denen oben im Monat Juni die Rede war, da sie, wenn sie auch unter den nämlichen Kaisern das Martyrium vollbrachten, dennoch an unterschiedlichen Orten und von verschiedenen Richtern getötet wurden.« Dieser Passus am Ende der Legende der Jungfrau Fidis (Nr. 153,8) ist eines der Beispiele für die kritische Arbeitsweise des Autors (vgl. dazu auch die Einleitung, S. LVIII–LXV).
Einige Legenden, wie die der hl. Georg (Kap. 53), Christophorus (Kap. 98) oder Julianus des Hospitaliers (Hospitator; in Kap. 128, S. 351f.), finden sich hier zum ersten Mal und legen eine Art kanonischen Grund für die Verehrung dieser Heiligen im westlichen Abendland. Das lange Kapitel 113 (S. 288–294) über den hl. Dominikus († 1221) ist eines der Beispiele für zeitgenössische confessores. Eine interessante Episode ist in der Legende des Evangelisten Johannes zu finden, der hier als Bräutigam der Hochzeit zu Kana eingeführt wird (S. 45, 20–46, 26). Nach dem Mahl mahnte ihn Jesus, seine Gattin zu verlassen und ihm zu folgen. So bewahrte Johannes die Jungfräulichkeit und gewann als Lohn für den Verzicht die besondere Zuneigung des Herrn (nach der »Historia scholastica« des Petrus Comestor mit Berufung auf Hieronymus »De viris illustribus«).
Die Edition zeichnet die Sorgfalt bei der Erstellung von Text und Apparaten aus (nur ein kleines Versehen sei hier angemerkt: discipulus zu korrigieren in discipulum, S. 10, 189).
Ausführliche Indices zum Text (Quellen sowie Personen- und Ortsnamen) erleichtern die Benützung und ermöglichen eine differenzierte Suche und Erschließung.
Diese Besprechung hat leider über Gebühr lange auf sich warten lassen. Das vorzustellende, trotz seines Umfangs noch handliche Buch ist nachgerade ein Klassiker, insofern tut ihm die Verzögerung keinen Abbruch. Weite Verbreitung ist ihm zu wünschen, nicht nur in wissenschaftlichen Institutionen und innerhalb von Fachkreisen, sondern auch bei einer Leserschaft, die aus der Lektüre von Heiligenviten vielfachen Gewinn zu ziehen versteht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mechthild Pörnbacher, Rezension von/compte rendu de: Jean de Mailly, Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum. Supplementum hagiographicum. Editio princeps. A cura di Giovanni Paolo Maggioni, Firenze (SISMEL – Edizioni del Galluzzo) 2013, CCIV‑588 p., 5 ill. (Millennio Medievale, 97. Testi, 21), ISBN 978-88-8450-368-8, EUR 132,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79678