Ausgehend von einem viel diskutierten Bildmotiv, lädt der Verfasser zu einer weiten Reise ein: chronologisch vom 9. bis ins 14. Jahrhundert, räumlich von Burgund in die Auvergne, die Pyrenäen, nach Byzanz und schließlich nach Italien. Im Fokus steht die Darstellung einer menschlichen Figur – interessanterweise meist Männer, wenn es nicht um ausdrückliche Personifikationen geht – die deutlich sichtbar eine Geldbörse um den Hals trägt. In der Forschung wird das Motiv meist als Darstellung der »Avaritia« gedeutet, deren Name in einer bedeutungsvollen Spannung sowohl als Geiz wie als Habgier zu übersetzen ist.
Das Werk erschien bereits 2017 im italienischen Original und liegt nun in französischer Übersetzung vor. Für die Reise bietet es einen gedoppelten Ausgangspunkt: Zum einen, so der Autor, sei seine Beschäftigung mit dem Gegenstand durch eine Darstellung im Broletto von Brescia angeregt worden (S. 7). Die Untersuchung selbst nimmt den Faden aber zunächst mit einem Exemplum auf, das Étienne de Bourbon in der Mitte des 13. Jahrhunderts festhielt: Ein Geldleiher sei auf dem Weg zu seinem Eheschluss unter dem Kirchenportal von der steinernen Geldbörse erschlagen worden, welche die Portalfigur eines Wucherers habe fallen lassen (S. 21). Étienne gefiel das Exemplum offenkundig gut, und er arbeitete es in einer zweiten Version unter der Rubrik der »Avaritia« noch etwas ausführlicher aus: Hier erschlägt sogar die ganze Figur des Wucherers den Bräutigam (S. 22f.). In beiden Fällen notiert Étienne, dass die anderen Wucherer vor Ort in der Folge für die Zerstörung der weiteren Portalfiguren an der Kirche gesorgt hätten.
Ausgehend von dieser Erzählung, greift der Verfasser die Großnarrative auf, innerhalb derer die Episode und das Motiv des Mannes mit der Geldbörse um den Hals traditionell gedeutet wurden – allen voran die normativen Konflikte zwischen religiösem Ideal und Kirche einerseits und der sich dynamisch entwickelnden Welt von Markt und Wirtschaft andererseits (S. 24–37). Um dem Gegenstand in seiner historischen Situierung gerecht zu werden, so das von den Arbeiten Jacques Le Goffs inspirierte Forschungsprogramm, gelte es nun, den Hiatus zwischen weiter Makro- und konkreter Mikroebene zu überwinden. Die resultierende Spurensuche folgt dabei zunächst der Standardinterpretation des Motivs, die hier den »Wucherer« inkriminiert sieht (S. 44–48), um dann mit Blick auf frühe Darstellungen in Skulpturen der Auvergne und im Pyrenäengebiet (S. 49–66) diese enge Zuordnung überzeugend zu hinterfragen.
Vor dem Hintergrund der Debatten über Simonie und Kirchenreform erweist sich das Motiv als relativ unspezifische und weit gefasste Markierung eines generelleren Übels, das durch die usuria lediglich spezifiziert wird (S. 66). Entsprechend konnte in der weiteren Entwicklung im Westen Europas der Reiche wie der Sünder ganz allgemein durch die Geldbörse markiert werden (S. 67–83). Die Interpretation wird zusätzlich durch die Beobachtung gestützt, dass frühe Vorläufer bereits im Byzanz des 9. Jahrhunderts begegnen (S. 85–99), wo das Motiv, bei aller nötigen Vorsicht in der Interpretation der spärlichen Materialien, zur Ausgrenzung als häretisch deklarierter Gegner in Glaubenskonflikten eingesetzt werden konnte. Als zentrale Referenzobjekte dienen hier der sog. »Chludov-Psalter«, der nach seiner Entstehung im frühen 9. Jahrhundert stark überarbeitet wurde (S. 86, mit Abb. 19), sowie eine von ihm abhängige Handschrift in den Sammlungen des Athos-Klosters (S. 98, mit Abb. 20).
Auf dieser Basis schlägt Milani eine Transfergeschichte vor, die von Byzanz in den lateinischen Westen führt, wo das Motiv situativ bedingt moduliert wurde – und die Geldbörse vielleicht sogar im Rahmen von Exkommunikationen eine rituelle Rolle eingenommen haben mag (S. 109–114). Der praktische Einbezug einschlägiger Skulpturen in das Ritual der Exkommunikation bleibt Vermutung – deutlich wird aber, dass die Markierung einer bildlich dargestellten Figur durch eine Geldbörse weit gefasste negativ-ausgrenzende Vorstellungen vermittelt, ganz gleich ob die Diffamierung von Wucherern, Juden oder Häretikern intendiert war (S. 114f.).
Mit diesem Befund leitet der Autor zu seinem zweiten Teil über – und damit zugleich zu einem besonders tiefgreifend durchgearbeiteten Dossier: In mehreren Kommunen Italiens begegnet nämlich das untersuchte Motiv im 13. und 14. Jahrhundert jenseits der kirchlich-religiösen Sphäre. Zwar mag es auch hier zunächst durch Skulpturen an Kirchenportalen (Lodi) oder in Darstellungen des Jüngsten Gerichts (Ferrara) eingeführt worden sein (S. 119). Jenseits des religiös markierten Kontextes diente es aber bald in Schmähbildern zur Brandmarkung politischer Gegner der jeweiligen Kommune.
Detailliert und ausführlich kontextualisierend entwickelt Milani – der ganz nebenbei einen Überblick zur Erforschung der Schmähbilder im spätmittelalterlichen Italien bietet (S. 123–134) – drei Fallstudien: In Mantua erscheint das Motiv in den 1250er Jahren und markiert in Wandmalereien im Palazzo della Ragione Verräter an der Kommune (S. 135–157); Beispiele aus Padua, Bologna und Florenz belegen den Einsatz zur Markierung von Fälschern in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (S. 159–177); in den Malereien des Broletto in Brescia wurden schließlich vorrangig Gegner der Kommune auf diese Weise erfasst und vorgeführt (S. 179–205), sodass sich die Malereien regelrecht als »in Bildform übersetzte Liste politischer Gegner« (S. 203) lesen lassen.
Zwei Seitenblicke auf Giottos Arenakapelle (Cappella degli Scrovegni) und Dantes »Göttliche Komödie« einerseits (S. 207‑227) sowie auf eine kurze Episode in der »Chronik« Salimbenes von Parma andererseits (S. 229–235) runden die Darstellung ab. Auf die ausführliche Bibliografie folgt ein Index, der das Werk erschließt, dem zudem ein Tafelteil mit insgesamt 41, teils farbigen Illustrationen beigegeben ist.
Insgesamt versteht es der Verfasser meisterhaft, präzise und tiefgreifende Detailanalysen mit dem weitgespannten geografischen Rahmen zu verbinden, den das Motiv zwischen Byzanz und dem lateinischen Westen durchwandert, und dabei zugleich die unterschiedlichen Kontexte und Sphären zu berücksichtigen, in denen es erscheint. Zentral erscheint die Berücksichtigung der kirchlich-religiösen wie auch der politischen Einsatzmöglichkeiten eines Motivs, das man gerne ein wenig verkürzt im theologisch-moralisierenden Rahmen gedeutet hat. Sowohl die Verweise auf die »byzantinische Vorgeschichte« wie die Darstellung des politisch-propagandistischen Potenzials eröffnen weitreichende Perspektiven.
Wenn dabei der auf Italien fokussierende zweite Teil des Bandes insgesamt engagierter und mitreißender wirkt, so mag dies nicht zuletzt daran liegen, dass Milani in den einführenden Abschnitten darum bemüht ist, jüngere Überlegungen zur Funktion und Wahrnehmung von Bildern aufzugreifen. Dies verleiht seinem Text zunächst einen hochgradig komplexen Theorierahmen, der von den folgenden, sehr konkret-materialnahen Überlegungen aber eher ablenkt als sie zu fundieren.
Ähnlich versuchen auch die Abschnitte zum normativen Spannungsfeld zwischen Kirche und Wirtschaft auf nicht immer klar nachzuvollziehende Weise einen historiografischen Abriss mit theoretischen Positionierungen zu verbinden. Dem gegenüber liegt – zumindest in den Augen des Rezensenten – die Stärke dieses ausgesprochen lesenswerten Bandes im Schnittfeld von Geschichte und Kunstgeschichte vor allem in den ebenso überzeugenden wie präzisen Detailstudien, insbesondere des zweiten Teils.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Oschema, Rezension von/compte rendu de: Giuliano Milani, L’homme à la bourse au cou. Généalogies et usage d’une image médiévale, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2019, 276 p., XXIV p. de pl. (Histoire), ISBN 978-2-7535-7796-1, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79679