Die Dissertation umkreist das Wirken eines Publizisten, Schafzüchters und Kurzzeitpolitikers in der Frühphase der Ära Metternich. Seinen großen politischen Auftritt hatte Charles Pictet de Rochemont im Herbst 1815 an der Seine: Er vertrat die eidgenössischen Interessen am Pariser Friedenskongress und entwarf die Erklärung über die immerwährende Neutralität der Schweiz vom November 1815. Dass die Schweizergeschichte ohne Pictets Formulierungskünste sehr anders verlaufen wäre, ist unwahrscheinlich, aus zwei Gründen: Die Schweiz für dauerhaft neutral zu erklären, war an den Verhandlungstischen kaum strittig. Und die später viel gerühmte Beteuerung der Signatarmächte, Neutralität, territoriale Unverletzlichkeit sowie Unabhängigkeit der Schweiz lägen »dans les vrais intérêts de la politique de l’Europe entière«1 (S. 217), war nicht originell, griff vielmehr eine an den Friedenskongressen inflationär verwendete Formel auf. Dass das »Interesse Europas« dies und das (beispielsweise Ruhe und Ordnung) erheische, war damals ein Topos, wer etwas durchsetzen wollte, musste sich auf besagtes »Interesse« berufen.

Knüpfte die Pariser Erklärung an eine lange eidgenössische Neutralitätstradition an? Beiläufig suggeriert es Lehmann immer wieder, so, wenn er behauptet, dass man 1815 »die immerwährende[!] Neutralität der Schweiz bestätigte[!]« (S. 16, vgl. S. 34 oder auch S. 19). Solche Formulierungen könnten missverständlich sein, denn vormodernen Politikbeobachtern fiel die eidgenössische Außenpolitik nicht weiter auf. Flugschriften rekurrierten fast nie auf eine typisch schweizerische Neutralität; wenn sie, selten genug, ein Gemeinwesen als gewohnheitsmäßig neutral charakterisierten, war es die »Serenissima«. Die »immerwährende« Neutralität von 1815 ist, so gesehen, weniger Kulminations- denn Startpunkt.

Pictet kehrte 1816 zu seinen Schafen und zu seinen Büchern zurück. Im Jahr 1821 meldete er sich mit der Schrift »De la Suisse dans l’interêt de l’Europe«2 zu Wort. Veranlasst durch tagesaktuelle Zweifel an der Verlässlichkeit der jüngst für neutral erklärten Eidgenossen, regte die Studie an, die schweizerische Neutralität unanfechtbarer zu machen, durch eine Reihe von Reformmaßnahmen, die weit über den eigentlich militärischen Bereich hinauswiesen: »Die Neutralität diente [...] als argumentativer Hebel für die Reform des Staatenbundes von 1815« (S. 229). Die Schrift war kein Verkaufsschlager, animierte aber einige andere Autoren zu Veröffentlichungen ähnlichen Inhalts.

Für Pictet setzte glaubwürdige Neutralität eine sehr weitgehende Unabhängigkeit von den Nachbarstaaten voraus. Die Eidgenossen müssten deshalb auf »Fremde Dienste« verzichten; die seitherigen Söldner könne man in einer modernisierten einheimischen Landwirtschaft einsetzen, was wiederum die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland minimiere: »L’agriculture est la seule base solide de la prospérité«3 (S. 198) - das steht (was die Dissertation nicht erwähnt) in gut physiokratischer Tradition. Die bedingt verteidigungsbereite Schweiz sei wehrhafter zu machen, schon deshalb brauche sie, so Pictet, eine stärkere Zentralregierung. Das befördere den eidgenössischen Zusammenhalt, dem auch eine éducation nationale in aufklärerischem Geiste zuarbeiten sollte.

Pictet schrieb der eidgenössischen Neutralität einerseits, da sie das Gleichgewicht stabilisiere, eine europäische Funktion ein; andererseits erlege sie der Schweiz selbst strikte Einigelung auf. Dass diese isolationistische Haltung den frühen europäischen Nationalismen immanent gewesen sei, wie Lehmann meint, bezweifelt der Rezensent, für den deutschen Nationalismus dementierten das 1821 Griechenvereine und Philhellenenbataillone. Wenn Pictet postulierte: »Il faut que son territoire«, also das der Schweiz, »redevienne sacré«4 (S. 324), ist das hingegen schon für den Nationalismus selbst frühester Ausprägung bezeichnend: Bereits in der Zeit der »Befreiungskriege« wurde die Nation mit Termini aus originär religiösen Sinnbezirken aufgeladen.

Die erste Hälfte der Dissertation wirft Schlaglichter auf einige Vorgänge und Diskurse der Jahrzehnte vor und um 1800, die sich auf Pictets Erörterungen auswirken würden. Zunächst inspiziert Lehmann die neutralitätsrechtlichen Passagen im 1758 vorgelegten »Droit des gens« von Emer de Vattel. Er setze Neutralität mit Unparteilichkeit gleich, so Lehmann; kenne ein unbedingtes Recht auf Neutralität; und mache Truppendurchmärsche vom Plazet des neutralen Transitlandes abhängig. Da hat Lehmann bei seinem Landsmann nicht ganz genau nachgelesen.

Für Vattel gebot Neutralität nur dann Unparteilichkeit, wenn das die Vertragslage erlaubte. Tatsächlich empfahl Vattel dem Möchtegernneutralen dringend, Vertragspartner zu finden, anstatt sich einfach für neutral zu erklären, und man dürfe durch sein Abseitsstehen nicht krasses Unrecht begünstigen (»si elle«, die Gerechtigkeit, »est évidente, on ne peut favoriser l’injustice«). Sodann: »Si l’injustice du refus était manifeste«, dürfe der Kriegführende den Transitus innoxius, den geordneten Durchmarsch erzwingen5. Vattel glänzte eben nicht durch gedankliche Systematik und konzeptionelle Klarheit, sein Neutralitätskonzept war in Manchem veraltet, war weniger wegweisend als, beispielsweise, ein Vierteljahrhundert davor das eines Adam Friedrich Glafey.

Weitere Sondierungen gelten der Oekonomischen Gesellschaft zu Bern. Sie forderte verbesserte landwirtschaftliche Anbaumethoden, diese verhülfen dazu, endlich von Importen unabhängiger zu werden; das war nicht so originell, wie Lehmann vielleicht meint, die Berner Postulate entsprechen denen zahlreicher gemeinnützig-ökonomischer Gesellschaften Europas und zahlreicher physiokratischer Theoretiker.

Drittens lernen wir den Bündnisvertrag mit Frankreich von 1777 kennen. Er sollte aus Pariser Sicht die französische Ostgrenze abriegeln. Dass die Eidgenossen darum baten, diesen Grenzschutz als »Neutralität« zu kaschieren, sollte ihre notorische, nun wieder einmal verbriefte Abhängigkeit von Frankreich bemänteln (und steht, wie man erläuternd hinzufügen könnte, in einer langen Tradition unzähliger vormoderner Neutralitätsverträge, die zwischen Freundschafts-, Protektions- und Neutralitätspakt changieren oder ein Unterwerfungsverhältnis beschönigen).

Sodann macht uns Lehmann auf eine Rede aufmerksam, die Franz Bernhard Meyer von Schauensee 1796 vor der Helvetischen Gesellschaft hielt. Sie geißelte die »Fremden Dienste«: Diese schwächten die Unabhängigkeit der Schweiz, weil sie die Eidgenossen erpressbar machten, und seien volkswirtschaftlich schädlich. Man müsse die Kinder fortan zu guten Patrioten erziehen, dann zögen sie gesunde Feldarbeit dem Solddienst für Ausländer vor. Pictet erweist sich im Rückblick als geschickter Kompilator.

Die Dissertation ist gedankenreich, aber nicht leicht zu lesen, auch, weil die Leserin bzw. der Leser bis zur Buchmitte nicht recht versteht, warum er bzw. sie sich gerade mit diesem oder jenem Schnörkel der schweizerischen Geschichte befassen soll; vielleicht sollte man einfach die zweite Buchhälfte zuerst lesen. Die Studie zitiert und paraphrasiert sehr ausgiebig. Für schweizerische Leserinnen und Leser hat die Lektüre indes sicher auch aus tagespolitischen Gründen ihren Reiz: Verbinden sich doch in den Alpentälern immer wieder dezidiert konservative Stimmen mit vorgeblich progressiven, »globalisierungskritischen« zum lauten Ruf nach Einigelung, nach Abschirmung von der bösen Staatenwelt ringsum, nach der Rettung der »gesunden« Lebenswelt des Homo alpinus (in vormodernen Flugschriften gern abschätzig: »diese Kühmelcker«) vor »unschweizerischen« Werten. Ein Axiom Pictets - die Schweiz als immerwährender Puffer zwischen den Dauerrivalen Frankreich und Habsburg - ist seit dem Untergang der Donaumonarchie vor hundert Jahren obsolet. Aber manche der um 1820 erhobenen publizistischen Forderungen ähneln doch aktuellen politischen Verlautbarungen.

1 Erklärung der Vertreter Österreichs, Frankreichs, Portugals, Preußens, Russlands und von Großbritannien am Pariser Friedenskongress vom 20. November 1815.
2 [Charles Pictet de Rochemont], De la Suisse dans l’Intérêt de l´Europe ou Examen d’une Opinion énoncée à la tribune par le général Sébastiani, Paris 1821.
3 Das hatte Pictet de Rochemont bereits 1808 postuliert: ders., Préface, in: ders., Cours d´agriculture angloise. Avec les développemens utiles aux Agriculteurs du Continent, Bd. 1, Genf 1808. Die Schrift "De la Suisse" argumentiert ähnlich.
4 Rochemont, De la Suisse (wie Anm. 2), S. 324.
5 Emer de Vattel, Le droit des gens, ou principes de la loi naturelle, Appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains [...] Nouvelle Edition Augmentée, Revue et Corrigée, Bd. 1, Amsterdam 1775; die Ausführungen »de la neutralité« stehen in Buch III, chap. 7, §§ 103-135. Vattels Neutralitätskonzept wird von von verschiedenen Seiten her beleuchtet in: Axel Gotthard, Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2014.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Axel Gotthard, Rezension von/compte rendu de: Peter Lehmann, Die Umdeutung der Neutralität. Eine politische Ideengeschichte der Eidgenossenschaft vor und nach 1815, Basel (Schwabe Verlag) 2020, 378 S., ISBN 978-3-7965-3975-6, CHF 70,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79689