Für die Kultur- und Geisteswissenschaften erweist sich der sogenannte »material turn« als ausgesprochen gewinnbringend, denn er fordert interdisziplinäre Forschungsdiskussionen geradezu heraus. Der Blick auf Material, Materialität und Objekte sowie der Blick auf den Umgang mit Objekten unterscheidet sich je nach Fachdisziplin, bietet dadurch aber auch disziplinenübergreifendes Erkenntnispotenzial. Der vorliegende Sammelband mit dem kurzen und prägnanten Titel »Material Bernini« setzt die Annahme voraus, dass sich die Bedeutung von Kunstwerken nicht ohne Kenntnis ihrer materiellen Beschaffenheit bestimmen lässt. Gleichzeitig hebt die Herausgeberin Evonne Levy in ihrem einleitenden Beitrag »Obstacles in the Path to a Material Bernini (1900–Present)« hervor, dass die materielle Beschaffenheit von Artefakten in einen jeweils spezifischen Kontext eingeordnet werden muss und nur so neue Erkenntnisse ermöglicht.

Die ausgewiesene Barock- und Bernini-Expertin Levy legt zusammen mit Carolina Mangone einen Sammelband vor, der einerseits auf eine Tagung an der Universität Toronto, Kanada, zurückgeht, andererseits auf der Ausstellung »Bernini: Sculpting in Clay« basiert. Dieser Bezug wird auch daran deutlich, dass sich gleich mehrere Aufsätze auf Berninis Entwürfe aus Ton konzentrieren. Der zweite Teil des Bandes rückt diese »bozzetti« (Entwurfsskulpturen) in den Vordergrund (vor allem die Beiträge von Michael Cole, Steven F. Ostrow und Tara L. Nadeau).

»Material Bernini« überzeugt durch das Konzept und die Gliederung: Levy legt zunächst in einer beeindruckend dichten Darstellung einen historiographischen Überblick vor, in dem sie bis zu Jacob Burckhardt zurückgeht, die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Barock im Allgemeinen und Gian Lorenzo Berninis Werk im Besonderen verbindet und schließlich die Entwicklung der Bernini-Forschung von Heinrich Wölfflin über Alois Riegl, Herbert Read und Rudolf Wittkower pointiert zusammenfasst. Dabei arbeitet sie überzeugend heraus, wie stark Berninis Werk historiographisch als ein geradezu immaterielles Werk betrachtet wurde: Bernini als ein Künstler der flüchtigen Bewegung, der religiösen und materiellen Transzendenz sowie ephemerer Theatralik; ein Meister der Illusion (S. XVII). Vor diesem Hintergrund entfalten die insgesamt acht Aufsätze dann ein vielschichtiges Bild des materiellen Bernini, dem die Autorinnen und Autoren auf religiös-theologischer, politischer und – wiederum – kunsttheoretischer Ebene begegnen.

Maarten Delbeke hatte bereits im Jahr 2006 in »Bernini’s Biographies« einen fundierten, quellengestützten Bernini-Aufsatz vorgelegt, den er jetzt mit einem Beitrag ergänzt, in dem er ähnliche zeitgenössische Texte und Selbstauskünfte von Bernini auf ihre Materialitätsbezüge hin untersucht (»The Matter of Metaphor: Truth, Sculpture, and the Word«). Er verweist noch einmal explizit auf Berninis eigene Metapher, dass Stein bzw. Marmor sich in seinen Händen wie formbares Wachs verhalte. Ergänzt wird Delbekes Perspektive durch den Beitrag von Fabio Barry, der die Transzendenz der Materialien in Berninis besonders prunkvoll ausgestatteten Kirchenensembles thematisiert (»Im/material Bernini«). Barrys Aufsatz verdichtet den Anspruch des Sammelbandes, den Levy bereits in ihrem Vorwort formuliert hat: die Verbindung von materieller und immaterieller Perspektive auf Berninis Werk und Wirken. Ausgehend von der Grundlage, die Delbekes Beitrag gelegt hat, untersucht Barry vor allem den Wandel aus dem materiellen (hier: architektonischen) Bereich in eine immateriell-himmlische, illusionistische Sphäre. Levy wiederum greift die Ergebnisse auf und bindet sie in ihre historiografische Skizze ein, indem sie diese Sichtweise als einen posttridentinischen Materie/Geist-Dualismus bezeichnet, der durchaus mit der kunsthistorischen Einordnung eines Wölfflin vereinbar ist.

Innerhalb der Materialitätsforschung hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere die »agency« von Objekten und Artefakten als zentrales Thema herauskristallisiert. Hier setzt Joris van Gastel an, der mit seinem Aufsatz materielle und immaterielle Ebene zu verbinden versucht (»Body and Clay: Material Agency from an Early Modern Perspective«). Van Gastel beschließt den ersten Teil zum Themenkomplex »Immaterial/Material« und leitet gleichzeitig zur intensiveren Auseinandersetzung mit Berninis Tonentwürfen über, die im zweiten Teil des Sammelbandes behandelt werden. Er argumentiert, dass anders als Materialien wie Marmor oder Gips, Ton durchaus eine eigene Handlungsfähigkeit attestiert werden könne, eine eigene Kraft zur »agency«. Ton sei als Material, so van Gastel, in der Lage, Geist und Körper im kreativen Prozess zu verbinden. Er bindet frühneuzeitliche Quellen in seine Argumentation ein und schließt mit der Aufforderung, vergleichbare Fragen, die er an den Ton als Material gestellt hat, auch an den Körper des Künstlers (»the artist's bodily relation«) zu stellen.

Grundsätzlich überzeugt der Sammelband durch die eng aufeinander abgestimmten Beiträge, die einheitliche Begrifflichkeit und die zahlreichen Bezugnahmen der Autoren innerhalb des Bandes aufeinander. Der Fokus auf Berninis Bozzetti aus Ton warf in unterschiedlichen Zusammenhängen schließlich die Frage nach der Schnelligkeit der Bearbeitung des Tons auf. Den Tonentwürfen fehlt der letzte Schliff, den Bernini – durch zeitintensivere Bearbeitung – hätte ausführen können. Cole und Ostrow greifen diesen Aspekt auf und fragen, inwiefern Bernini ggf. mit »performativer Geschwindigkeit« arbeitete. Alles in allem gelingt den Autorinnen und Autoren ein erster Zugriff auf den materiellen Bernini. Den Anspruch, neue Wege für die (kunst-)historische Forschung, zumal für die Barockforschung, zu eröffnen, gelingt. Ergänzt wird der dichte und mit zahlreichen Abbildungen versehene Band durch ein vorbildliches, durchdacht untergliedertes Sach- und Personenregister. Trotz der fraglos sehr speziellen Thematik ist es ein Band, der viele Anregungen bereithält und dessen Lektüre lohnt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Britta Kägler, Rezension von/compte rendu de: Evonne Levy, Carolina Mangone (ed.), Material Bernini, London, New York (Routledge) 2018, XX–247 p., num. b/w ill. (Visual Culture in Early Modernity), ISBN 978-1-138-35306-0, GBP 36,99., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79691