Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der akademischen Ausbildung von Künstlern und Künstlerinnen ist nach einem jahrzehntelangen Desinteresse in den letzten Jahren wieder in den Fokus der kunsthistorischen Forschung gerückt. Mit seiner Publikation zu den deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert lieferte Ekkehard Mai im Jahr 2010 eine längst überfällige Gesamtdarstellung1. Einzelstudien zu den Kunstakademien – ob in Deutschland oder Europa – fehlen aber häufig noch. Zwar hat etwa 2012 Christian Michel eine umfangreiche Studie zur 1648 gegründeten und für alle nachfolgenden Akademiegründungen im 17. und 18. Jahrhundert vorbildhaften Pariser École royale de peinture et de sculpture vorgelegt2, aber ein »annähernd vollständiges Bild zum Netzwerk der europäischen Akademienlandschaft steht noch aus«, wie Markus A. Castor 2015 immer noch gültig feststellte3. Einzelstudien, wie die nun publizierte Dissertation von Sophie-Luise Mävers zur Kasseler Kunstakademie, die die Künstler-und Künstlerinnenausbildung explizit im nationalen und internationalen Vergleich untersucht, werden dazu beitragen, dieses Desiderat zu erschließen.
Wollte man sich über die Kasseler Kunstakademie informieren, musste man lange auf die einzige Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1908 von Hermann Knackfuß zurückgreifen, die auf Quellennachweise weitestgehend verzichtete4. Im Jahr 2017 erschien zum 240. Geburtstag der Akademie schließlich ein Sammelband zu den Anfängen der Kunstakademie5, an dem die Autorin mitwirkte und der nun durch ihre Studie umfangreich ergänzt wird. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei die frühen 1760er Jahre, in denen erstmals die Herauslösung einer Akademie aus dem Collegium Carolinum in Kassel diskutiert wurde, die Gründung der Akademie im Jahr 1777, die französische Fremdherrschaft in den Jahren 1806–1813, die Reorganisation der Akademie in den 1830er Jahren bis hin zur preußischen Annexion Kurhessens 1866.
In ihrer zwölf Kapitel umfassenden Studie diskutiert Sophie-Luise Mävers ihre zentrale These, nämlich dass »das reziproke Austarieren zwischen innovativen Reformimpulsen und einer restriktiven Regelungswut als konstitutives Element der Kasseler Kunstakademie im späten 18. und 19. Jahrhundert zu begreifen« sei (S. 2).
Die Autorin unternimmt zunächst eine Revision der Entstehungsgeschichte der Akademie und zeigt, dass die Initiative zur Gründung der Kunstakademie bereits 1862 einsetzte – und damit zwei Jahre früher als bisher angenommen – und nicht von Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel ausging, sondern von Künstlern wie Johann Heinrich Tischbein d. Ä. und Johann August Nahl d. Ä. sowie dem Architekten Simon Louis Du Ry (S. 30–33). Sie zeigt detailliert, wie sich die Organisationsstruktur der Akademie auf das Referenzmodell der Pariser Académie royale de peinture et sculpture zurückführen lässt (Kap. 3) und teilweise auch auf das Reglement der Accademia Clementina in Bologna, die Friedrich II. von Hessen-Kassel im Rahmen einer Italienreise 1777 besuchte (Kap. 5).
Ausführlich geht die Studie auch auf das praktische Ausbildungsprogramm und den an der Kunstakademie ausgeführten Fächerkanon ein (Kap. 7) und untersucht die Kopierpraxis in der Kasseler Gemäldegalerie, die aufgrund von restriktiven Regulierungen durch Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel seit den 1790er Jahren negative Folgen für die Künstlerausbildung mit sich brachte und gar eine Abwanderungswelle von Akademieschülern auslöste (Kap. 8). Die Vergabe von Reisestipendien ins Inland sowie nach Rom und Paris wird in fünf Fallbeispielen untersucht (Kap. 9). Ein wichtiger Beitrag, da die Auslandspolitik deutscher Kunstakademien durch Stipendienvergaben leider kaum erforscht ist6.
Die Autorin trägt zu der spannenden Fragestellung der transnationalen Künstler- und Künstlerinnenausbildung vor allem in Bezug auf Rom bei und weist generell daraufhin, dass die Vergabe und die Modalitäten der Reiseunterstützungen unsystematisch verlief (S. 170–172). Die Ausführungen zu Paris bleiben etwas unscharf (S. 182–187). Ausführlich hervorgehoben wird von der Autorin die Tatsache, dass die Kunstakademie zu einer der ersten deutschen Ausbildungsstätten zählte, die Frauen an der akademischen Ausbildung teilhaben ließ (Kap. 6). Außerdem protegierte sie in den 1830er und 1840er Jahren ortsansässige Manufakturen, die auf Kunstakademiebedarf spezialisiert waren und durch ehemalige Akademieschüler betrieben wurden (Kap. 11).
Nach Krisenzeiten unter französischer Fremdherrschaft, Staatshaushaltsdebatten sowie innerakademischen Richtungsstreitereien, reformierte sich die Akademie in den 1830er Jahren während eines siebenjährigen Reorganisationsprozesses (Kap. 10). Letztlich, so zeigt Sophie-Luise Mävers, sind die Wirkungsmechanismen der Kunstakademie aber auch immer von der unterschiedlich ambitionierten Kulturförderung der jeweiligen Landesherren geprägt worden.
Die Auswertung eines umfangreichen Konvoluts von bisher unerforschten Akademieakten ist das große Verdienst der Autorin, die das Gesamtbild der Kasseler Kunstakademie endlich auf eine breite und transparente Quellenbasis stellt und ihre Entstehung sowie Entwicklung bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im nationalen und transnationalen Kontext der Akademiebewegung einordnet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Nina Struckmeyer, Rezension von/compte rendu de: Sophie-Luise Mävers, Reformimpuls und Regelungswut. Die Kasseler Kunstakademie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Marburg (Historische Kommission für Hessen) 2020, X‑302 S., 48 farb. Abb. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 184), ISBN 978-3-88443-339-3, EUR 29,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79692