Mit der Revolutionszeit 1789–1850 fokussiert der hier besprochene Band zum französischen Enzyklopädismus auf eine Periode, die nicht nur durch politische Umwälzungen, sondern auch durch epistemologische Herausforderungen, nämlich die Neuorganisation von Wissensbereichen und die Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften, markiert ist. Entgegen der Idee eines harten Bruchs zwischen einem enzyklopädischen 18. Jahrhundert (»XVIIIe siècle encyclopédiste«, S. 8) und einem spezialisierten 19. Jahrhundert (»XIXe siècle spécialiste«, S. 8) betonen die Herausgeber Vincent Bourdeau, Jean‑Luc Chappey und Julien Vincent aber bereits in ihrer thematischen Einführung (S. 7‑17) eine Kontinuität des Enzyklopädischen, das als Konzept für die Wissenschaftslandschaft und das Buch- und Pressewesen der Jahrhundertwende, aber auch darüber hinaus einflussreich geblieben sei.
So wurden in der Tat auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin zahlreiche enzyklopädische Universal- und Fachwörterbücher publiziert – die Veröffentlichung der bedeutenden »Encyclopédie méthodique« Panckouckes (1782‑1832) fällt beispielsweise recht genau in das genannte »Zeitalter der Revolutionen«. Zudem reklamierten außer dem Lexikon weitere Gattungen, wie Zeitschriften und Handbuchreihen, explizit einen »enzyklopädischen«, d. h. (wissenschaftlich) allumfassenden Charakter: die »Revue encyclopédique«, z. B., der im vorliegenden Band die Beiträge von Aurélien Aramini (»Traditions religieuses et synthèse républicaine dans la ›Revue encyclopédique‹«) und Barbara Revelli (»Pratiques de lecture encyclopédiques à l’époque de la Restauration«) gewidmet sind. Carole Christen wiederum verweist in ihrem Artikel auf die Selbstbezeichnung der »Manuels Roret« als »Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste« - Gustave Flaubert sollte dieser Publikation in seinem »enzyklopädischen Roman« »Bouvard et Pécuchet« später ein Denkmal setzen (vgl. S. 224–226). Auch ein Sittengemälde wie Curmers »Les Français peints par eux-mêmes« verstand sich aufgrund seines wissensarchivarischen und panoramatischen Charakters als eine, in diesem Fall »moralische«, Enzyklopädie (vgl. den Beitrag von Aude Déruelle: »Décrire les mœurs, du tableau à l’encyclopédie«). Daneben gab es Bemühungen, der »Enzyklopädie« als einer gleichberechtigten Organisation der Wissenschaftsbereiche und -disziplinen – und damit im Sinne der ursprünglichen, antiken Wortbedeutung als »Kreis des Wissens« – einen institutionellen Rahmen zu geben. So lud – wie dies Jean‑Luc Chappey in seinem Beitrag referiert – die Société philarétique im Frühjahr 1798 die wenige Jahre zuvor gegründeten, neuen wissenschaftlichen Gesellschaften dazu ein, sich unter dem Dach des Instituts national zu versammeln und so eine »encyclopédie vivante« zu konstituieren (vgl. S. 39). Begleitet wurden diese Projekte von einer wissenschaftsphilosophischen Reflexion über den Charakter des Enzyklopädischen, z. B. bei Saint-Simon, Auguste Comte und François Guizot, die sich nahezu zwangsläufig unter Bezugnahme auf die »Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers« von Denis Diderot und Jean le Rond D’Alembert vollzog.
Es sind diese »Enzyklopädismen«, oder anders: die Enzyklopädie in ihrer dreifachen Bedeutung als »organisation institutionnelle, […] ouvrage imprimé […] ou philosophie des sciences« (S. 13), die der Sammelband in insgesamt zwölf Aufsätzen (zzgl. vier kurzen Quellenstudien [»Documents«]) beleuchtet. Er lässt die Spannungsfelder, in denen sich die Enzyklopädie (im genannten, dreifachen Wortsinne) im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert bewegte, anschaulich werden: zwischen der Ausdifferenzierung der Wissenschaften einerseits und einem allumfassenden Wissensanspruch andererseits (vgl. Julien Vincent: »La crise des discours préliminaires«); zwischen der zunehmenden Spezialisierung der Fachwissenschaften zum einen und der Idee der Popularisierung des Wissens und seiner Vermittlung an eine breite, volkstümliche Leserschaft zum anderen (vgl. Carole Christen: »La construction d’un encyclopédisme populaire dans le premier XIXe siècle«).
Die Projekte der Revolutionsära, die sich zur »Encyclopédie« Diderots und D’Alemberts entweder in Distanz setzten oder, umgekehrt, in deren Nähe sie sich stellten, werden dabei an ihre politischen Rahmenbedingungen und Utopien zurückgebunden: den Positivismus Auguste Comtes betrachtet etwa Laurent Clauzade (»Structure et fonction de l’encyclopédie chez Auguste Comte«), den Frühsozialismus Henri de Saint-Simons bespricht Thomas Lalevée (»L’encyclopédisme de Saint-Simon«), die Ideen Pierre-Sébastien Laurenties, der ein katholisch-legitimistisches Gegenmodell zur »Encyclopédie« entwarf, werden von Estelle Berthereau beleuchtet (»Pierre-Sébastien Laurentie aux origines de l’Encyclopédie du XIXe siècle«). Vor diesem Hintergrund tritt die »Enzyklopädie« in ihrem politischen Charakter anschaulich hervor.
Der hervorragend strukturierte Band ist in drei große Teile untergliedert, die unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vornehmen, inhaltlich aber schlüssig ineinandergreifen. Teil eins widmet sich unter dem Titel »Pour une histoire politique de l’encyclopédisme« den genannten, politischen Dimensionen des Enzyklopädismus. In drei, ihrerseits jeweils überblicksartig angelegten Beiträgen (zzgl. zwei »Documents« von Jean‑Luc Chappey und Andrea Lanza) werden nacheinander herausragende Momente respektive Etappen der Entwicklung des Enzyklopädismus in der Revolutionsära skizziert (Jean‑Luc Chappey: »Batailles encyclopédiques entre Révolution et Empire«), die Gesamtheit der »enzyklopädischen Kultur« (»culture encyclopédique«, S. 50) der Zeit umrissen (Julien Vincent: »Le champ encyclopédique en France dans la première moitié du XIXe siècle«) und der Enzyklopädismus als ein Ort der Propagierung religiöser und ideologischer Überzeugungen charakterisiert (Vincent Bourdeau: »Un encyclopédisme républicain sous la monarchie de Juillet«).
Teil zwei (»Arbres, tableaux et systèmes«) fokussiert in insgesamt fünf Einzelstudien (zzgl. einem »Document« von Frédéric Dupin) auf die Wissensordnungen unterschiedlicher enzyklopädischer Projekte und ihre zugrunde liegenden ideologischen und epistemologischen Prämissen – von den katholischen Wissenschaften über den Frühsozialismus und Saint-Simonismus bis hin zum Positivismus.
Der mit »Pratiques et publics« überschriebene dritte Teil schließlich untersucht in vier Aufsätzen (zzgl. einem »Document« von Carole Christen) pragmatische Aspekte des französischen Enzyklopädismus, die sowohl die (anvisierten) Rezipienten als auch die Produzenten gedruckter Enzyklopädien in den Fokus rücken und nicht zuletzt die konkrete Praxis des enzyklopädischen Schreibens selbst exemplarisch beleuchten (vgl. Pierre Philippe: »L’écriture encyclopédique en pratique: Achille Requin, la physiologie et l’hygiène dans l’›Encyclopédie nouvelle‹«).
Die einzelnen Studien bestechen durchweg durch ihre präzise Analyse und ihren Detailreichtum – ohne dabei je »das große Ganze« des Bandthemas aus dem Blick zu verlieren. Eine Chronologie der im Werk behandelten Enzyklopädien, eine umfassende Bibliografie sowie ein Personen- und Werkregister runden das stimmige Gesamtbild ab. Eine durch und durch informative und überaus anregende Lektüre.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Susanne Greilich, Rezension von/compte rendu de: Vincent Bourdeau, Jean‑Luc Chappey, Julien Vincent (dir.), Les encyclopédismes en France à l’ère des révolutions (1789–1850), Besançon (Presses universitaires de Franche-Comté) 2020, 358 p. (Les Cahiers de la MSHE Ledoux, 39. Archives de l’imaginaire social, 9), ISBN 978-2-84867-667-8, EUR 30,00. , in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79818