Der vorliegende Band ist das Ergebnis der im Jahr 2017 abgehaltenen Tagung »Le paysan et la mer«, die sich mit den unterschiedlichen Arten des bäuerlichen Lebens in Küstenregionen beschäftigt hat. Diesen ländlichen Gemeinschaften wird durch ihre stetigen Beziehungen zum Meer ein besonderer Charakter zugesprochen (S. 7) und genau diese »specificité« wird im Band eingehend untersucht. In der Einleitung unterscheiden die Herausgeber die Begrifflichkeiten »littora« und »maritime«: Während sich »littora« immer auf die tatsächliche Küste als Grenze zwischen Festland und Meer bezieht, bezeichnet der zweite Begriff Landstriche, die durch ihre Lage nahe dem Meer geprägt werden (S. 8–16). Diese maritime Beeinflussung ist umfangreich und umfasst naturräumliche Begebenheiten ebenso wie landwirtschaftliche Produktionsformen oder kulturelles Brauchtum.
Zu Recht wird im Band betont, dass bisher derartige Einflüsse meist nur für Städte untersucht und der ländliche Bereich weitgehend von der wissenschaftlichen Bearbeitung ausgeklammert wurde. Die Erforschung der Küsten wird außerdem von Arbeiten zum Thema Handel dominiert, die ihrerseits jedoch häufig die Küstengebiete aussparen und diese entsprechend als Peripherie behandeln (S. 24). Das bestätigt ein Blick auf die im Band zitierte (französischsprachig dominierte) Literatur, wenngleich wichtige englischsprachige Werke wie »The Corrupting Sea« erwähnt werden1.
Ein Pluspunkt des Bandes ist sicher die Rezeption zahlreicher Dissertationen und Forschungsarbeiten, die sonst allzu leicht übersehen werden. Die in der Einleitung formulierten kritischen Gedanken, dass die Erforschung dieser Küstengemeinschaften häufig zu Unrecht von Themen wie etwa dem Handel entkoppelt ist, sollten ernst genommen werden. Denn dass die Produktionsform von Salz direkten Einfluss auf den Salzhandel hat (bspw. S. 156) oder die Beteiligung der bäuerlichen Bevölkerung im Seehandel wichtig war (S. 270), ist zwar einleuchtend, aber keineswegs leicht zu erforschen.
Die Artikel in diesem Band widmen sich diesen Themen: In 13 Beiträgen werden unterschiedliche Aspekte von Küstengesellschaften untersucht. Die Aufsätze sind in vier Abschnitten zusammengefasst: 1. »Pêches et pêcheries«; 2. »Quels modes d’agricultures littorales?«; 3. »Des campagnes exposées aux risques«; 4. »Campagnes littorales et activités de cabotage«. Der zeitliche Rahmen der Untersuchungen erstreckt sich dabei vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein Großteil der Abhandlungen decken längere Zeitabschnitte ab und rekonstruieren ausführlich die (geologischen, wirtschaftlichen, kulturellen) Veränderungen der Küstengesellschaften (so bspw. die Beiträge von Riccardo Rao, Yannis Suire, Tim Soens, Jean-Claude Hocquet, Inês Amorim, Gérard Le Bouëdec, Sébastien Périsse, Emmanuelle Charpentier, Pierre Caillosse, Gilbert Buti, Werner Scheltjens). Das ist sicher eine Stärke des Bandes, da so die wechselseitigen Einflüsse von Umwelt, Küstengesellschaft und wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen »von außen« veranschaulicht werden.
Dies verdeutlicht, dass eine Untersuchung der Küstengesellschaft immer auch einen breiteren Zugang erfordert. Die einzelnen Beiträge sind inhaltlich und methodisch unterschiedlich angelegt. Während bei einigen Beiträgen bewusst an größere theoretische Diskurse angeknüpft wird, bspw. bezieht sich Riccardo Rao in seiner Untersuchung der Nutzung von Gemeingütern auf Eleonore Ostroms Arbeiten, handelt es sich bei den meisten Beiträgen um mikrohistorische Detailstudien zu bestimmten Regionen oder Wirtschaftsformen. Methodisch gibt es eine begrüßenswerte Vielfalt aus unterschiedlichen Zugängen, die sich über die klassische Quellenkritik hinaus auch quantifizierender Methoden bedienen (bspw. die Beiträge von Werner Scheltjens und Inês Amorim), GIS Kartographierung anwenden (etwa der Beitrag von Pierre Caillosse), aber auch mit Interviews arbeiten (siehe den Beitrag von Jacques Boucard).
Inhaltlich ist der erste Teil der Landwirtschaft gewidmet und umfasst dabei sowohl die Fischerei, die Salinennutzung als auch die Landwirtschaft im klassischen Sinn. Riccardo Rao untersucht in seinem Artikel die mittelalterliche Salzgewinnung in italienischen Lagunen und rekonstruiert die Formen der Salzgewinnung im Spannungsfeld unterschiedlicher beteiligter Akteure und Institutionen (ländliche Gemeinden, städtisches Kapital, staatliche Eingriffe). Yannis Suire beschreibt in seinem Beitrag den Fischfang vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert im Marais Poitevin und geht auf dessen wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung ein (etwa auf den Fisch als Zahlungsmittel).
In der Studie von Jacques Boucard geht es um spezielle und bis heute existierende Formen der Fischerei auf der Île de Ré. Der Autor rekonstruiert detailreich (gemeinschaftliche) Besitz- und Arbeitsverhältnisse der Bauern am Meer. Der letzte Artikel des ersten Teils stammt von Daniel Faget, der einen Konflikt um die wirtschaftliche Nutzung natürlicher Ressourcen im Roussillon des 18. Jahrhunderts untersucht und dabei die Interaktionen zwischen der ländlichen Gemeinde und der staatlichen Verwaltung anhand von Protokollen und Prozessakten beleuchtet und damit die vielfältigen Verflechtungen zwischen Herrschaft, Gemeinde, Markt und (wirtschaftlichem) Hinterland aufzeigt.
Der zweite Abschnitt widmet sich den unterschiedlichen landwirtschaftlichen Formen in den Küstengebieten. Tim Soens zeichnet ein umfangreiches Bild der Pluriaktivitäten der ländlichen Bevölkerung an der Atlantikküste zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert und betont, dass eine Mehrfachbeschäftigung in unterschiedlichen Bereichen (Landwirtschaft, Salzsieden, Torfstechen etc.) nicht notwendigerweise anzeigt, dass es sich hier um prekäre Beschäftigungen handelte.
Jean-Claude Hocquet untersucht die Salzgewinnung in der Adria und arbeitet den Einfluss der Salzindustrie auf das Alltagsleben an der Adria heraus. Der Beitrag von Inês Amorim vergleicht die Salzproduktion in verschiedenen portugiesischen Salinen und geht ausführlich auf die ökologischen Rahmenbedingungen und unterschiedlichen Methoden der Salzgewinnung ein. Anschließend werden deren Auswirkungen auf den internationalen Handel untersucht, die mit Hilfe von quantitativen Erhebungen ausgewertet wurde.
Abschließend beschreibt Gérard Le Bouëdec die fließenden Übergänge unterschiedlicher Wirtschaftsformen an der französischen Meeresküste im 17. bis zum 19. Jahrhundert. Bäuerliche Familien gingen einer Vielzahl von Tätigkeiten nach und häufig fanden sich unter ihnen auch Seeleute. Ihre landwirtschaftlichen Tätigkeitsbereiche waren darüber hinaus sehr heterogen, wie dies der Autor aufzeigen kann.
Im dritten Teil geht es um die Gefährdung der Küstenlandschaften durch Unwetter, Stürme und Naturkatastrophen. Sébastien Périsse zeigt die Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Küstengebiete von Saintonge (14. bis zum 16. Jahrhundert) sowie die daraus resultierenden politischen Maßnahmen auf. Emmanuelle Charpentier rekonstruiert die Auswirkungen von Umweltschäden und insbesondere von Dünenbildung in den Küstengebieten bei Léon in der Bretagne (17. bis zum 19. Jahrhundert). In einem lesenswerten Beitrag schildert anschließend Pierre Caillosse den durch äußere Umwelteinflüsse und wirtschaftliche Veränderungen hervorgerufenen Wandel der wirtschaftlichen Nutzungsformen bei Soulac, den er mit Karten visualisiert.
Der vierte Teil behandelt schließlich die Beziehungen zwischen Küstenlandschaft und Schifffahrt. Gilbert Buti zeigt in einer mikrohistorischen Untersuchung der südfranzösischen Küstenlandschaft, wie eng die Verzahnung von Küste und Küstenschifffahrt war, die durch zahlreiche Vermittler (kleine Hafenstädte, Transporteure, Herbergen etc.) hergestellt wurde. Im letzten Beitrag von Werner Scheltjens werden Änderungen im Transportgewerbe zur See entlang der niederländisch-deutschen Küste zwischen 1300 und 1850 mittels einer elektronischen Auswertung der Sundzollregister rekonstruiert. Der Autor kann zeigen, dass es zu großen Umwälzungen im Seetransport kam und im Rahmen einer Internationalisierung des Handels eine Verdrängung von Transporteuren aus bestimmten kleineren Mündungsgebieten der Küsten stattfand.
Einige durchaus innovative Aussagen zur historischen Einordnung der Küstengesellschaften – etwa die Bewertung vielfältiger bäuerlicher Wirtschaftsformen (S. 107) – gehen leider in der Detailfülle der vielen Beiträge verloren. Eine knappe Zusammenführung der wichtigen Ergebnisse der Tagung wäre hier eine willkommene Ergänzung, da einige Ergebnisse zwar wiederholt in den Beiträgen erwähnt, aber nicht explizit zusammengeführt werden.
Nach der Lektüre dieses lesenswerten Bandes bleibt der Eindruck, dass die Küstengesellschaften sehr komplex waren und dies in zukünftigen Untersuchungen stärker berücksichtigt werden sollte. Die Einzelbeiträge weisen einen hohen Grad an Spezialisierung auf, weswegen nicht alle Beiträge für ein breites Publikum von Interesse sein werden. Die einzelnen Artikel können trotzdem auch ohne weitreichendes Vorwissen gelesen werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Stephan Nicolussi-Köhler, Rezension von/compte rendu de: Jean-Luc Sarrazin, Thierry Sauzeau (dir.), Le paysan et la mer. Ruralités littorales et maritimes en Europe au Moyen Âge et à l’époque moderne. Actes des XXXIXes Journées internationales d’histoire de Flaran, 13 et 14 octobre 2017, Toulouse (Presses universitaires du Midi) 2020, 296 p., 44 fig., 13 tabl. (Flaran, 39), ISBN 978-2-8107-0664-8, EUR 26,00. , in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.79819