Nach 230 Seiten, das ist nach etwa zwei Dritteln seiner Untersuchung langt Tobias Lagatz bei seinem eigentlichen Thema an: dem Verbot von Eugène Sues sozialem Sensationsroman aus dem Jahr 1845 mit dem Titel »Le Juif errant« (dt. »Der ewige Jude«) durch die vatikanische Indexkongregation. Die vielen Nebenpfade werden bewusst eingeschlagen, denn die Wege der Zensur (übrigens nicht nur der kirchlichen!) sind oft wunderbar und ihre Ratschlüsse alles andere als einsichtig. Um herauszufinden, warum eine Publikation oder, wie im Fall Sues, das Gesamtwerk eines Autors oder einer Autorin zu einem bestimmten Zeitpunkt verboten wurde, bedarf es nicht nur der Einsicht in die Gutachten zu einzelnen Büchern, die seit der Öffnung der Archive des Vatikan zugänglich sind, sondern insbesondere auch der Kenntnis der beteiligten Protagonisten und des vorgeschriebenen Verfahrens. Das Gutachten eines Zensors (im Vatikan als »Konsultor« bezeichnet) bildete nämlich nur die Grundlage für die Beratungen in den Sitzungen der Indexkongregation und der Kardinalsversammlung und die letztinstanzliche Entscheidung durch den Papst.

Die Gutachter argumentierten meist theologisch, die übergeordneten Gremien politisch. Wie Lagatz’ Beispiele zeigen, sind zudem umfassende Recherchen im kurienexternen Umfeld einer Entscheidung notwendig, da die politische Lage und das geistesgeschichtliche Klima, insbesondere das Gefühl der Gefährdung des Status quo, der Monarchien und/oder des reinen Glaubens, die Zensur zu Verboten antrieb, unter Umständen aber auch zu taktischem Stillschweigen bzw. der Nichtveröffentlichung von Verboten veranlasste.

Der Historiker und Poet Edgar Quinet bildete gewissermaßen die Vorhut in Sachen des Motivs »ewiger Jude« auf dem Index. Sein mythologisches Epos »Ahasvérus« (1835) enthält eine äußerst eigenwillige Verarbeitung der Kreuzwegepisode, bei der ein Schuster dem erschöpften Jesus die kurze Erholung auf der Bank vor seinem Haus verweigert haben soll; er macht ihn nämlich zur Leitfigur seines von der deutschen Romantik beeinflussten geschichtsphilosophischen Modells. Das Werk wurde verboten, obwohl der bestellte Gutachter nur einen blassen Eindruck davon vermittelte und sich überdies als inkompetent und überfordert bezeichnete – groteskerweise sah er bei dem Lesepublikum dasselbe Unverständnis voraus und gerade darin Gefahr schlummern. Bereits anlässlich dieses Beispiels greift Lagatz weit aus, geht in der Motivgeschichte bis zur »Kurzen Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus« (1602) zurück und bezieht Indizierungsverfahren zu anderen Werken Quinets sowie Schriften der Historikerkollegen Jules Michelet, Adam Mickiewicz, Victor Cousin, Vincent Génin und anderer ein. Die antijesuitischen Vorlesungen am Collège de France im Zusammenhang mit dem Streit um die Oberhoheit über das französische Unterrichtswesen bildeten einen roten Faden, sie gaben den Ausschlag für zahlreiche Verbote dieser Jahre; in manchen Fällen wartete man in Rom aber ab, ob sich die Lage nicht beruhigen würde und vermied es, durch Verbote verstärkte Aufmerksamkeit auf bestimmte Autoren zu lenken.

In Sues »Juif errant« kommen der mythische jüdische Übeltäter und seine Gefährtin Hérodias nur in der Rahmenhandlung vor, der eigentliche Roman ist eine vielsträngige wilde Abenteuergeschichte mit deutlichen sozialreformerischen und antijesuitischen Nebentönen: der Orden möchte sich mit allen Mitteln die Weltherrschaft sichern und schreckt vor Mord nicht zurück. Wie erhaltene Gutachten belegen, hatte man im Vatikan bereits zuvor von Sues »Mystères de Paris« (1842/43) und auch vom »Juif errant« und einigen anderen Romanen Kenntnis genommen, aber auf Verbote verzichtet. Erst 1852 landete mit einem Schlag das Gesamtwerk auf dem Index.

Das zugehörige Gutachten, das wiederum nur sehr mangelhafte Kenntnisse des Untersuchungsgegenstandes erkennen lässt, attestiert Sue pauschal Immoralismus (Lagatz listet S. 255f. ca. 90 einschlägige Adjektive und Phrasen aus dem Gutachten auf) und Antiklerikalismus. Was die Flüchtigkeit betrifft, benützte der Konsultor offensichtlich Exemplare aus der vatikanischen Bibliothek, in denen er einzelne Passagen markierte, die er im Übrigen aber unaufgeschnitten ließ. Zwar wurde die antijesuitische Tendenz im »Juif errant« zur Kenntnis genommen, der Grund, warum der Roman zusammen mit dem Gesamtwerk verboten wurde, scheint aber eher der Ruf Sues als radikaler Sozialist gewesen zu sein – 1851, nach der Machtübernahme Napoleons III., flüchtete er bekanntlich nach Savoyen.

Weitere wichtige Kontexte sind in diesem Fall die Frühsozialisten (Pierre-Joseph Proudhon, Charles Fourier, Henri de Saint-Simon, François Villegardelle, Charles François Chevé …) und ihre Schriften sowie die Mode des pauschal als sittenverderbend gebrandmarkten Feuilletonromans: Neben Sue wurden unter anderem auch die Werke der beiden Dumas, jene von Sand, Balzac und Soulié sowie weitere mit Sue assoziierte populäre Romanliteratur indiziert, so zwei spanische Romane, »Maria la Spagnola« von Ayguals de Izco, der sich auf das Vorbild Sue berief, und »La Judía Errante« von Ceferino Tressera. Wenn man den Rahmen noch etwas weiter aufspannt, müssen die Verbote dieser Zeit im Zusammenhang mit einem Kampf gegen die Moderne betrachtet werden, zu dem sich die katholische Kirche aufgerufen fühlte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zudem, dass, wie Korrespondenzen nahelegen, im Fall Sues und Proudhons, das Verbot bereits vor der Begutachtung feststand.

Der wesentliche Schluss aus Lagatz’ Untersuchung lautet, dass »die Geschichte der Indexkongregation nicht allein anhand der überlieferten Gutachten geschrieben werden kann« (S. 341); nötig ist vielmehr die Berücksichtigung der Aktivitäten aller beteiligten Gremien und der diversen kurienexternen zeithistorischen Kontexte. Auch treten in den Verfahren wie auf dem Index intertextuelle Cluster miteinander korrespondierender Werke hervor.

Wer Interesse für die Kreuzung von Kirchen-, Sozial- und Literaturgeschichte und die Geduld mitbringt, sich durch eine Unmenge zitierter Dokumente und Materialien zu arbeiten, wird die Studie mit Gewinn und streckenweise auch mit Vergnügen lesen. Dennoch hätten zahlreiche Redundanzen und Wiederholungen spätestens in der Druckfassung dieser Münsteraner Dissertation beseitigt werden können. Schließlich sei noch festgehalten, dass Lagatz bei aller Umsicht und Detailfreudigkeit in puncto Kontexten keinerlei Bezug auf die Forschung im Bereich der staatlichen Zensur nimmt. Die Ähnlichkeiten und Überschneidungen sind nämlich frappant, genannt seien nur die hierarchische Verfahrenspyramide, die beim jeweiligen Oberhaupt gipfelte, die Verbotsgründe, das Verbot von Gesamtwerken und Gruppen von Autoren und Autorinnen (z. B. Junges Deutschland), zum Teil auch derselben Titel, die Schwierigkeit, kompetente Gutachter zu finden, die Gleichsetzung von Fiktion und Sachliteratur und nicht zuletzt das als Antrieb wirkende, mitunter paranoid anmutende Gefühl der allseitigen Gefährdung.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Norbert Bachleitner, Rezension von/compte rendu de: Tobias Lagatz, Der ewige Jude von Edgar Quinet und Eugène Sue auf dem Index librorum prohibitorum. Zerrbild seiner selbst und Spiegelbild der Zeit, Paderborn, München, Wien, Zürich (Ferdinand Schöningh) 2020, 384 S. (Römische Inquisition und Indexkongregation, 20), ISBN 978-3-506-70288-3, EUR 99,00., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80026