Im Konzert der Unternehmerverbände spielen die regional organisierten Industrie- und Handelskammern (IHK) in der Regel einen untergeordneten Part, verglichen mit den Dach- und Branchenverbänden der Industrie. Das gilt besonders für den Bereich der inter- und transnationalen Beziehungen. Dementsprechend hat sich auch die geschichts- und politikwissenschaftliche Forschung in Deutschland und Frankreich bislang eher selten um die IHK gekümmert. Martial Libera, mit dieser Arbeit an der Universität Straßburg habilitiert, verdient höchstes Lob dafür, dass er sich auf dieses wenig beackerte Terrain gewagt hat. Und es hat sich gelohnt: gar so machtlos waren die Industrie- und Handelskammern der Grenzregion – Mühlhausen, Colmar, Straßburg und Metz auf französischer, Freiburg, Lahr, Karlsruhe, Stuttgart, Saarbrücken, Trier und Koblenz auf deutscher Seite – nämlich nicht, insbesondere nicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als in den deutschen Besatzungszonen politische Strukturen noch fehlten.
Libera stützt sich auf eine breite Basis unveröffentlichter Quellen aus staatlichen, kommunalen und privatwirtschaftlichen Archiven. Dazu zählen insbesondere die Archives départementales in Saint-Julien-lès-Metz, Strasbourg und Colmar sowie das Stadtarchiv von Mulhouse – die alle auch Kammerbestände beherbergen – ferner das Landesarchiv des Saarlandes und das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg in Hohenheim. Seinem Eindruck nach ist die Überlieferung im Fall der französischen Kammern besser als bei den deutschen.
Seinen Untersuchungszeitraum hat der Autor in drei große Abschnitte gegliedert: die »lange« Nachkriegszeit von 1945 bis Ende der 1950er-Jahre, die »Stunde« der europäischen Einigung bis 1973 und schließlich die Phase neuer Herausforderungen bis Mitte der 1980er-Jahre. Damit orientiert er sich an der gängigen politisch-ökonomischen Periodisierung, sieht man von der Zäsur Ende der 1950er-Jahre ab, also: Trente Glorieuses, Krisenphänomene in den 1970er-Jahren und Anfänge der Globalisierung im darauffolgenden Jahrzehnt. Dem ersten Abschnitt vorangestellt ist ein gut 20‑seitiges, vergleichendes Kapitel über Entstehung und Entwicklung der Kammern, ihren rechtlichen Status, ihre Funktionen und ihren Platz im Verbandsgefüge, dessen Fazit lautet, dass die Ähnlichkeiten die Unterschiede überwogen.
Die »langen« 1950er-Jahre waren gekennzeichnet von den Nachwirkungen des Krieges und dem gleichzeitigen Bemühen zunächst der französischen Kammern, bald aber auch ihrer deutschen »Schwesterorganisationen«, ihre Geschäftsbeziehungen zu benachbarten Grenzgebieten wieder aufzunehmen. Gegenüber den ersten Bemühungen um eine Integration Europas verhielten sich einige Kammern zunächst ablehnend, während andere schnell damit begannen, sich grenzüberschreitend zu organisieren. Dieses »Europa der Kammern« entsprach nicht vollständig dem Europa der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl: »Elle s’organise autour du Rhin et fonde son unité sur un ensemble de points communs: intérêts économiques, histoire et civilisation« (S. 193), gewissermaßen ein Zusammenschluss »von unten«. Nicht unerwähnt lässt Libera auch den großen Streitpunkt der damaligen deutsch-französischen Beziehungen, die Saarfrage.
Im zweiten, bis 1973 reichenden Teil stehen die Reaktionen der IHK auf die Gründung des Gemeinsamen Marktes und dessen Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung und die grenzüberschreitende Kooperation im Zentrum. Zumindest in den ersten Jahren seiner Existenz verschärfte der Gemeinsame Markt die wirtschaftlichen Ungleichgewichte entlang der deutsch-französischen Grenze, und es gab durchaus Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit auf Kammerebene. Zwei der hier interessierenden Kammern, die von Colmar und Freiburg, beschlossen Ende der 1950er-Jahre dennoch, eine Partnerschaft einzugehen: »Bref, il y a là le modèle d’une forme de coopération véritablement aboutie« (S. 284). In der Praxis bedeutete dies vor allem die jährliche Organisation eines gemeinsamen Treffens abwechselnd in Colmar und Freiburg. Offensichtlich gelang es diesen beiden Kammern, sich über die »kulturellen« Unterschiede zwischen formalisierten, »aktenvermerkbasierten« deutschen und eher informell ausgerichteten französischen Gepflogenheiten einigermaßen hinwegzusetzen.
Der abschließende dritte Teil behandelt die Kammerbeziehungen bis Mitte der 1980er-Jahre, die geprägt waren von kammerorganisatorischen Reformen, wachsender Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierungstendenzen aufgrund neuer Formen der Globalisierung sowie einer Wiederbelebung der europäischen Einigung. Auf Seiten der Kammern kam es zu Rückzugsbewegungen, aber auch zur Öffnung für neue Themen und Aufgaben etwa im Bereich der Kommunikationstechnologien. Ein Anhang mit Angaben zu den Amtszeiten der Kammerpräsidenten und -Geschäftsführer, mit 22 Kurzbiografien wichtiger Akteure sowie Personen- und Organisationsverzeichnis runden die beeindruckende Studie ab.
Liberas Buch überzeugt durch die quellennahe Darstellung, den Blick für interessante Fragen – etwa nach der Bedeutung »wirtschaftskultureller« Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich für die Kammerzusammenarbeit – und die Einbettung der grenzüberschreitenden Kontakte zwischen deutschen und französischen Kammern in größere wirtschaftliche und politische Zusammenhänge und Entwicklungen wie Boom und Krise, deutsch-französische Aussöhnung und europäische Einigung, Regionalisierung und Globalisierung. Er kann zeigen, dass die Beziehungen zwischen den grenznahen IHK in den 1950er-Jahren hauptsächlich politischer Natur waren, danach aber einen eher »technischen« Charakter annahmen. Auch ließ das wechselseitige Interesse am Nachbarn nach. Für die deutsch-französischen Beziehungen ist das kein optimistisch stimmender Befund.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Martial Libera, Diplomatie patronale aux frontières. Les relations des chambres de commerce frontalières françaises avec leurs homologues allemandes (1945‒milieu des années 1980). Préface de Sylvain Schirmann, Genève (Librairie Droz) 2020, 462 p., 23 tabl., 7 cartes, 7 graph., 1 organigr. (Publications d’histoire économique et sociale internationale, 42), ISBN 978-2-600-05939-8, CHF 69,00., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80028